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Die Schriftleitung
Leseprobe 1
Weihnachten – Hochfest der Geburt des Herrn
IV. Lesepredigt: Vom Himmel herunter (Lk 2,1–14)
Im ersten Buch der Bibel, im Buch Genesis, wird erzählt, wie Gott einmal vom Himmel heruntersteigt. Es ist eine uralte Geschichte, eine Sage, die so oder ähnlich in vielen Kulturen und Religionen zu finden ist. Diese Geschichte geht so: Eines Tages beschlossen die Menschen, eine Stadt und einen Turm zu bauen. Es sollte nicht irgendeine Stadt und irgendein Turm werden. Nein, es sollte eine Stadt entstehen für alle Menschen und darin ein Turm, der bis in den Himmel reichte. Da stieg Gott vom Himmel herunter, um sich das anzusehen; und Gott missfiel, was er sah. Aber er rührte nichts an, nicht den Turm und nicht die Stadt. Vielmehr machte er, dass es unter den Menschen fortan nicht mehr nur eine einzige Sprache gab, sondern dass die Menschen in vielen Sprachen redeten. Da hörten die Menschen auf, an dieser einen Stadt und diesen einen Turm zu bauen und verstreuten sich über die ganze Erde. Den unfertigen Turm und die aufgelassene Stadt aber nannte man Babel.

Wenn heute in den Kirchen das Weihnachtsevangelium verkündet wird, dann wird ebenfalls eine Geschichte erzählt, wie Gott vom Himmel heruntersteigt. Aber heute wird nicht vom Bau einer riesigen Stadt und eines Turms, der in den Himmel ragt, erzählt, sondern von einer Niederkunft, von einem Kind, das zur Erde geboren wird.

Die Weihnachtsgeschichte ist die Gegengeschichte zu den Geschichten großer Reiche, die sich mit monumentalen Bauten schmücken und den Menschen eine einzige Sprache aufzwingen. Die Weihnachtsgeschichte ist die Gegengeschichte zu all den Imperien dieser Welt – vom Reich Alexanders des Großen über das Reich Karls V., in dem die Sonne nie unterging, bis zum britischen Kolonialreich; von der IG Farben, dem 1925 größten Chemie- und Pharmaunternehmen der Welt, bis zu den heutigen amerikanischen und chinesischen IT-Riesen.

Schauen wir nochmals auf diese alte Sage. Sie ist nicht ohne bittere Ironie: Das Problem beim Turmbau ist nämlich nicht, dass der Mensch den Himmel erreichen will. Der Fehler ist nicht, dass der Mensch die Höhe Gottes gewinnen will. Gott will, dass der Mensch bis zu ihm reicht. Nichts, was Menschen Großes und Hohes sind und leisten, gefährdet den Himmel. Vielmehr sind Himmel und Erde dadurch in Gefahr, dass die Menschen das Große und Hohe immer und immer wieder mit einem Turm verwechseln. Das Problem ist nicht die Gefährdung des Himmels, sondern der Verrat der Erde: dass Menschen sich über einander und über diese Erde mit allen ihren Geschöpfen erheben. Und darin ist diese Geschichte, so alt und naiv sie sein mag, immer noch wahr.

Die Türme, die gebaut werden, mögen heißen, wie sie wollen: Im Turm drängen die einen auf Kosten der anderen nach oben, sei es im großen Zynismus der Macht oder in der Rücksichtslosigkeit des kleinen Vorteils. Die Fundamente der Türme sind die Gebeine der Erschlagenen und Überrollten, sind zerstörte Landschaften und verwüstete Seelen. Die Türme stehen auf den Gräbern derer, die nicht flexibel genug sind, die keine Lobby haben, mit denen kein Geschäft oder kein Staat zu machen ist.

Wenn wir heute Weihnachten feiern, dann feiern wir, dass der Mensch die Höhe Gottes erreicht hat. Heute gewinnt er aber Höhe nicht dadurch, dass er sich reckt und streckt, dass er viele zusammen und unter seinen Willen zwingt. Heute gewinnt der Mensch dadurch die Höhe, dass Gott zu ihm heruntergestiegen ist – und dass er zu finden ist in diesem Kind, das – in Windeln gewickelt – in einer Krippe liegt.

Und so ist die Weihnachtsgeschichte auch Gegengeschichte zu den religiösen Machtgeschichten. Denn es wird nicht nur erzählt, dass ein Engel, ein Gottesbote, die Kunde von diesem Kind bringt. Mehr noch: die himmlischen Heerscharen, also gewissermaßen der himmlische Hofstaat, der den Thron Gottes umgibt, versammelt sich auf der Erde. Denn Gott wohnt nicht länger in entrückten Fernen und trägt nicht mehr die Züge eines Potentaten. Zu finden ist er in einem Futtertrog, in einem Stall, irgendwo am Rande des Römischen Reiches, in einem Flecken namens Betlehem.

Reinhard Feiter

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