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Leseprobe 1 |
3. Sonntag im Jahreskreis |
I. Nichts Religiöses (Lk 1,1-4; 4,14–21) |
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Vorgeschichte
Als Jesus in der Synagoge von Nazaret seine Antrittspredigt hält, ist er schon lange kein unbeschriebenes Blatt mehr. Mittlerweile ist er etwa dreißig Jahre alt und hat in religiös-theologischer Hinsicht schon allerhand Erfahrungen gesammelt. Das weiß man auch in seiner Heimatstadt. Die galiläischen Wege sind kurz.
Bereits als junger Mann hatte er sein Elternhaus verlassen und war bei Johannes dem Täufer in die Lehre gegangen. Eine Zeitlang hatte er dem populären Buß-Prediger aufmerksam über die Schulter geschaut, viel von ihm gelernt und sich am Ende auch von ihm taufen lassen. Doch anders als wohl bei den meisten anderen Täuflingen veränderte diese Taufe sein Leben grundlegend – ja, sie wurde zum entscheidenden Wendepunkt seines Daseins. Denn als Jesus in den Jordan stieg und darin untertauchte, öffnete sich der Himmel; jede Faser seiner Seele wurde vom Heiligen Geist ergriffen, und Gott selbst versicherte ihm in unzweifelhafter Eindeutigkeit: »Du bist mein geliebter Sohn. An dir habe ich Gefallen gefunden.« (Lk 3,21f.)
Jesus dürfte reichlich verwirrt gewesen sein. Was sollte diese Erwählung bedeuten? Was hatte Gott mit ihm vor? – Er braucht Zeit und Abstand, um zu sortieren, was er soeben erlebt hat. Bald hält es ihn nicht mehr beim Täufer Johannes; er geht fort, zunächst mit unbestimmtem Ziel. Er begreift, dass er seinen eigenen Weg finden muss. Dafür scheint die Wüste ein geeigneter Ort zu sein. Hier macht er 40-tägige Einzel-Exerzitien. Er ist mit Gott allein, nichts kann ihn ablenken. Er sucht Gewissheit, ist hin- und hergerissen. Doch die entbehrungsreiche Auszeit trägt Früchte, und am Ende ist er so stark, dass er mit großer Souveränität sogar den hinterhältigen Verlockungen des Teufels widersteht, der – erstaunlicherweise – wohl als erster begriffen hatte, dass mit Jesus eine neue Zeit anbricht (vgl. Lk 4,1–13).
Als er nach Hause zurückkehrt, weiß er sich mit Gott aufs Engste verbunden. Ihm ist klargeworden: Wenn er tatsächlich der »Sohn Gottes« ist, dann ist er auch eines Wesens mit ihm – dann steckt der göttliche Wille in ihm. Fortan nennt er den Gott Israels auch nicht mehr den »Allmächtigen« oder »Erhabenen«, sondern er bezeichnet ihn als seinen »himmlischen Vater«, oder er nennt ihn ganz vertraut »Abba«, lieber Vati. So tief verbunden sind beide miteinander.
Selbst- und Gottvertrauen
Mit diesem einzigartigen Gott- und Selbstvertrauen geht Jesus nun am Sabbat in die heimatliche Synagoge. Dort hat sich wie immer das Dorf zum wöchentlichen Gottesdienst versammelt. Familie, Nachbarn und Freunde sind da. Neugierige, Skeptische und Kritische vermutlich auch. Man ist gespannt, was der Zimmermannssohn, der ja so lange auf Reisen war, in seiner ersten Predigt zu sagen hat. Der Gottesdienst beginnt. Feierlich übergibt der Gemeindevorsteher die Heilige Schrift. Jesus spürt die Würde – und wohl auch die Bürde. Er blättert in den Texten, es dauert eine Weile. Beim Propheten Jesaja schlägt er eine Seite auf und beginnt, laut vorzulesen: »Der Geist des Herrn ruht auf mir.« Pause. Jesus weiß, was gemeint ist und dass es stimmt – ja, der Geist des Herrn ruht auf ihm. Gott selbst hat es ihm mitgeteilt. Was damals bei seiner Taufe geschehen ist, ist noch ganz gegenwärtig.
Dann liest er weiter, betont jedes Wort: »Der Herr hat mich gesalbt, und er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe, den Gefangenen die Entlassung verkünde, den Blinden das Augenlicht zurückgebe, die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe.« Wieder eine lange Pause.
Und dann folgt die Pointe. Frei und selbstbewusst erklärt der Laienprediger: »Heute hat sich das Schriftwort erfüllt.« Gemeint ist: Vor euch steht derjenige, der mit diesen Worten gemeint ist. Jesaja spricht von mir; er meint mich.
Für einen Moment herrscht im Raum völlige Stille. Die Zuhörer sind verblüfft – »Was hat er da gerade gesagt? – Er ist der ›Gesalbte des Herrn‹, der ›Messias‹?« Vereinzelt kommt Beifall auf. Doch schon wenige Augenblicke später folgt lautstarke Empörung »Was soll der Unsinn? Was bildet sich dieser Mann eigentlich ein? Wir alle kennen ihn doch von klein auf! Ist er jetzt übergeschnappt? Einen wie den würde Gott niemals erwählen!«
Die Stimmung kippt dramatisch. Ablehnung, Spott und Zorn schlagen Jesus entgegen. Am Ende hat sich die Wut so gesteigert, dass die Lage zu eskalieren droht. Jesus bleibt nur die Flucht aus Nazaret. In einer anderen Stadt wird er es erneut versuchen.
Missverständnis?
Das alles wirkt geradezu tragisch. Da hatte Jesus nach langer Vorbereitungszeit (und sicherlich auch mit vielen Selbstzweifeln) die Berufung Gottes angenommen und verinnerlicht. Er war bereit, sich mit Gott und »seiner Sache« vollkommen zu identifizieren und künftig als göttlicher Gesandter und mit »Vollmacht« (Lk 4,32.36) zu reden und zu handeln. In Nazaret sollte alles beginnen – die Vertrautheit der Heimat bot sich als Erprobungsort für die Ankündigung der neuen Heilszeit ja auch an.
Und wie bei allen Auftaktveranstaltungen sollte seine erste öffentliche Rede einen programmatischen und einladenden Ton haben. Allen sollte klarwerden, dass es um etwas Großes ging. Aber vor allem wollte er von jenem Reich künden, das Gott seinem Volk verheißt: von einem Reich des Friedens und der Freiheit, einem Reich der Gerechtigkeit und der Sicherheit. Kurzum: Es sollte ein neuer heilvoller Anfang für alle werden. Und dieser Anfang sollte nicht erst irgendwann und in ferner Zukunft anfangen, sondern schon jetzt, heute und hier. In diesem Punkt ging Jesus weit über die vagen Andeutungen Jesajas hinaus. Im Grunde also ein Angebot, das man nicht ablehnen konnte.
Doch offenbar kommt es nicht nur darauf an, was verheißen wird, sondern auch darauf, wer etwas verheißt. Für die Bewohner Nazarets war es schier unvorstellbar, dass »ihr« Jesus – der Junge von nebenan, geboren in einfachsten Verhältnissen und ohne Hochschulabschluss – ein legitimer Bote Gottes sein konnte. Ihn anzuerkennen – ihm zu glauben –, kam für sie erst gar nicht in Betracht. Alles schien viel zu absurd.
Am Ende muss Jesus einsehen, dass er in seiner Heimat nichts erreichen kann. Sein erster Reich-Gottes-Einsatz ist missglückt – niemand glaubt ihm, und niemand ist bereit, ihm zu folgen. Später wird er noch viele Male die Erfahrung machen, dass er bei den Erstadressaten der »Frohen Botschaft«, also den Angehörigen des »auserwählten Volkes«, auf taube Ohren stößt. Doch aufgeben wird er nicht. Erfolg hat er allerdings dort, wo es niemand erwartet hätte.
Und die Botschaft?
Doch was hatte Jesus eigentlich verkündigen wollen? Worum ging es bei der »Frohen Botschaft«, die seine Zuhörer erreichen sollte? Erstaunlicherweise verkündet Jesus keine neue Lehre – er übernimmt ja eine alte und bestens bekannte Verheißung des Propheten Jesaja. Auch hebt er weder die Heiligen Schriften noch die ehrwürdigen Traditionen aus den Angeln; es geht ihm auch nicht um eine neue Liturgie, nicht um Protest, nicht um Revolution, nicht um Krawall. Stattdessen geht es ihm einzig und allein darum, den Gott Israels (wieder) ernst zu nehmen – und zwar ernst zu nehmen in seinem unbedingten Heilswillen und in seiner treuen Verbundenheit mit den Menschen.
Jesus will von einem Gott künden, der mit den Menschen mitgeht, der sie nie und niemals allein lässt, der verlässlich und treu an ihrer Seite steht und der sich nichts sehnlicher wünscht, als dass jeder zum Heil findet.
Der Gott, der sich Jesus mitgeteilt hat und mit dem er einen so vertrauensvollen Umgang pflegt, ist ein nahbarer und mitfühlender Gott, ein Gott, der das Elend der Menschen sieht, es nicht erträgt und es lieber heute als morgen beenden will. Der Gott Jesu Christi ist ein Gott, der die Liebe selbst ist und der jeden – gerade auch die Sünder! – in seine Arme schließen möchte. Wer ihm vertraut und seiner Einladung glaubt, darf sich auf ewig frei und geborgen wissen. Denn nichts will Gott für sich behalten; alles, sogar sich selbst, will er verschenken – ihm zur Ehre und den Menschen zum Heil.
Im Grunde ist das alles nicht neu. Das Erste Testament ist voll von wunderbaren Bildern, die einen nahen, anteilnehmenden und treuen Gott zeichnen. Doch all das schien in Vergessenheit geraten zu sein. Ein Wust von Geboten und Satzungen, von kleinkarierten Regelungen und knebelnden Vorschriften, von menschlicher Anmaßung und ehrgeizigem Machtstreben hatte im Laufe der Jahrhunderte dafür gesorgt, dass das mitfühlende Angesicht Gottes aus dem Blick geriet und verdunkelt wurde. Und genau hier sieht Jesus seine Aufgabe: Er will das liebende Angesicht Gottes zum Leuchten bringen – ja, mehr: Er selbst will dieses Licht sein (vgl. Joh 8,12); er will das Leben – das Leben in Fülle und für jeden (vgl. Joh 10,10).
Freiheit
Und dabei geht es dem Gott Jesu Christi (vielleicht überraschenderweise) nicht in erster Linie um die »spirituellen« oder »religiösen« Bedürfnisse der Menschen. Vielmehr sieht er auf ihre ganz konkreten – auf ihre ganz »weltlichen« – Sorgen und Belastungen. Er hat Mitleid mit denen, die arm und verzweifelt sind, mit denen, die vor Einsamkeit vergehen, die in ihrer Trauer nicht ein noch aus wissen, und mit denen, die sich verstrickt haben und in ausweglosen Situationen feststecken. Diesen Nöten will er ein Ende machen. Menschen, die unter der Last des Lebens zusammenzubrechen drohen, sollen aufgerichtet werden – sie sollen zurück ins Leben finden. Gerade die Schwächsten haben doch weitaus Besseres verdient als das, was ihnen das Schicksal zugespielt hat und womit sie nun notgedrungen fertigwerden müssen. Das »Reich Gottes« – das »Gnadenjahr des Herrn« – gilt ihnen in ganz besonderer Weise (vgl. Jes 14,30.32). An anderer Stelle bringt es Jesus auf den Punkt: »Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken.« (Lk 5,31) Und so verheißt er Leben für all die, die nicht zum Leben gekommen sind, und Freiheit für all jene, die geknechtet werden. Mit Worten, aber vielmehr noch durch wirksame und wunderbare Taten, wird Jesus zeitlebens von diesem Gott künden.
Das ausgerufene Gnadenjahr? Zugegeben, in Nazaret lief es nicht gerade gut für die Reich-Gottes-Verkündigung. Weil den Zuhörern der Bote nicht behagte, fand auch seine Botschaft kein Gehör. Vielleicht war die öffentliche Delegitimierung der Person Jesu aber auch nur ein willkommenes Alibi, sich nicht mit dem auseinandersetzen zu müssen, was er zu sagen hatte. Es erinnert durchaus an heute: Auch uns lockt eine pikante Personalie ja oft weit mehr als ein intelligenter Inhalt. Das wissen vor allem die Medien.
Dabei hätte das, was Jesus in der Synagoge sagte, eine enorme Sprengkraft. Auch für uns. Denn vielleicht ist es auch für uns an der Zeit, sich weniger mit »Religiösem« und »Kirchlichem« zu beschäftigen, als die Schwachen und Abgehängten in den Blick zu nehmen. Vor lauter innerkirchlichen Debatten und glaubensinternen Streitigkeiten laufen wir Gefahr, gerade die zu übersehen, um die es eigentlich geht. Wir könnten vergessen, dass es zum ursprünglichen »Markenkern« des Christlichen gehört, jenen ein »Obdach für die Seele« (Paul Michael Zulehner) zu bieten, die in unterschiedlicher Hinsicht unbehaust und heimatlos sind.
Einmal deutlich gefragt: Zeigen unsere Gemeinden in glaubwürdiger, überzeugender und einladender Weise, dass ein »Gnadenjahr des Herrn« ausgerufen ist? Dass Sünder und Gescheiterte höchst willkommen sind? Dass verkrachte Existenzen, Depressive und Überschuldete Wertschätzung erfahren? Dass Vorbestrafte, Überforderte und Alkoholiker Anerkennung finden und sein dürfen? – Wenn ich mich umschaue, habe ich den Eindruck, dass noch viel Arbeit vor uns liegt.
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Stefan Peitzmann |
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pastoral.de
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