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Die Schriftleitung
Leseprobe 1
Verkündigung des Herrn | 25. März 2010
Seien Sie ganz Ohr – und Gott kann kommen (thematisch)

Zielsatz: Die Predigt möchte den Hörerinnen und Hörern einen ungewohnten Weg aufzeigen, wie sie wie Maria ganz Ohr werden können für Gottes Wort: indem sie nämlich versuchen, laut die Bibel zu lesen.

Ein originelles Kunstwerk
»Da kommt er, der Gottessohn!« Zunächst sieht man ihn nicht, den kleinen Jesus, in Stein gehauen im Bogenfeld des Nordportals der Marienkapelle in Würzburg. Auf den ersten Blick ist dieses Kunstwerk aus dem 15. Jahrhundert eine ganz klassische Darstellung des heutigen Festevangeliums: Der Engel Gabriel ist zu sehen, ein Spruchband in der Hand, auf dem »Ave Maria« steht, gegenüber die Jungfrau, mit einem Lächeln auf den Lippen, und darüber Gottvater auf dem Thron. Wer jedoch genauer hinschaut, entdeckt ungewöhnliche Einzelheiten: Gottvater hält etwas in der Hand, das wie ein Rohr aussieht. Es geht vom Mund Gottes aus und führt in einem weiten Bogen zum Ohr des -Mädchens aus Nazareth: ein Sprachrohr! Am Ende dieses Rohres ist eine Taube zu sehen, der Heilige Geist. Es sieht aus, als ob er Maria ins Ohr flüstern würde. Und kneift man die Augen zusammen, ist noch etwas zu sehen: Auf dem Rohr rutscht bäuchlings ein kleines Baby herunter: »Da kommt er, der Gottessohn.«
Der Bildhauer hat sich nicht einfach einen albernen Scherz erlaubt oder gar ehrwürdige Glaubensgeheimnisse veralbert. Im Gegenteil: Er hat im Grunde hohe Theologie in Stein gemeißelt. Denn schon die Kirchenväter haben sich die Frage gestellt: Auf welche Weise hat eigentlich Maria Jesus empfangen? Auf natürlichem Wege ja nicht. Schließlich haben sie die Antwort gefunden: Maria hat Jesus empfangen – durch das Ohr. Ihre Begründung: Maria ist deswegen Mutter des Gottessohnes geworden, weil sie »ganz Ohr« war, weil sie hörte, was der Engel ihr sagte: Sie habe Gnade gefunden bei Gott, sie werde einen Sohn bekommen, der Jesus heißen und der sein Volk von seinen Sünden erlöse werde. Maria hat zwar nachgefragt, aber am Ende hat sie vertraut, dass stimmt, was der Vater im Himmel ihr sagen ließ. Sie war gehorsam. Und so wurde sie fähig, Gottes Sohn zu empfangen durch die Kraft des Heiligen Geistes.

Der Glaube kommt vom Hören
Gott zu empfangen durch das Ohr: Das ist kein Sonderweg, der auf Maria beschränkt ist. Gott kann zu Ihnen kommen, ganz ohne Engelserscheinung, wenn Sie die Worte der Heiligen Schrift hören wie Maria. Das Nordportal der Würzburger Marienkapelle zeigt es: Aufgeschlagen hält die Jungfrau die Bibel in der Hand. Es scheint, als werde sie durch Gabriel gerade aus ihrer Lektüre aufgeschreckt. Ob nun die historische Maria lesen konnte oder nicht: Sie ist auf jeden Fall sehr vertraut mit der Bibel, wächst als gläubiges jüdisches Mädchen ganz selbstverständlich mit ihr auf. Sie besucht an jedem Sabbat den Gottesdienst, hört Abschnitte aus den fünf Büchern Mose und den Propheten und lauscht der Auslegung, singt aus dem Buch der Psalmen. Sie redet mit anderen über das Wort Gottes, mit ihren Eltern, ihren Freundinnen, hört, wie sie die Heilige Schrift deuten, und lernt, was sie als Jüdin glauben und wie sie leben soll. Noch bevor der Engel in ihr Leben tritt, hat Maria im Grunde schon begonnen, Gott durch das Ohr zu empfangen.

Nicht viel anders ist es heute: Gott kommt an bei mir, wenn sein Wort erklingt und ich ganz Ohr bin. Das erlebe ich immer wieder, und viele von Ihnen sicher auch: Eine Frau liest in der Sonntagsmesse die Lesung, ich merke sofort an der Art und Weise, wie sie die Bibelstelle vorträgt, dass sie sich mit ihr gründlich beschäftigt hat, dass sie uns etwas zu sagen hat, und plötzlich trifft mich abgebrühten Theologen ein Wort mitten ins Herz, so als hätte ich es noch nie gehört. – Eine Predigt fesselt mich, ein Satz daraus bleibt mir auch nach dem Gottesdienst noch im Gedächtnis und begleitet mich tagelang. – Ich nehme an einem Bibelgespräch teil, eine Teilnehmerin erzählt, was sie an dem Wort angesprochen hat, und eine neue Welt tut sich mir auf. Gott kommt durch das Ohr – direkt ins Herz.

Doch kommt er nicht auch, wenn ich einfach in der Bibel lese und mich etwas anspricht? Natürlich. Aber nicht von ungefähr sagt der Apostel Paulus im Römerbrief: »Der Glaube kommt vom Hören« (Röm 10,17), nicht vom Sehen. Wenn das Wort ausgesprochen wird, wenn eine andere Person es mir sagt, dann wird das Wort greifbar, anfassbar, konkret. Dann bleibt es nicht Gedanke, sondern bekommt einen Leib aus Klang, der schwingt und in meinen Körper hineingeht. Die Kraft eines Wortes liegt gerade auch in seinem Klang. Was zum Beispiel hat Ihnen geholfen, wenn Sie als Kind geweint haben? Es war vor allem der Klang in der Stimme der Mutter. Und so ist es auch mit dem Wort Gottes, das mit Überzeugungskraft und Glauben vorgetragen wird.

Laut lesen
Gott kommt nicht so sehr durch das Auge, sondern durch das Ohr. Übrigens auch, wenn Sie allein lesen. Und zwar wenn Sie es laut tun. Haben Sie das schon einmal versucht? »Das machen doch höchstens ABC-Schützen, die sich von Buchstabe zu Buchstabe hangeln«, denken Sie. Doch jahrtausendelang war es das Normalste von der Welt, dass diejenigen, die lesen konnten, laut gelesen haben oder zumindest halblaut. Leise zu lesen: das war zur Zeit Marias, ja im ganzen Altertum, völlig unüblich. Sie kennen die Erzählung aus der Apostelgeschichte, wie Philippus den äthiopischen Kämmerer trifft, der auf seinem Wagen sitzt und sich mit der Bibel beschäftigt. Es heißt da: »Philippus lief hin und hörte ihn den Propheten Jesaja lesen.« (Apg 8,30) Der Kämmerer hat so laut und vernehmlich gelesen, dass Philippus ihn hören und ihn ansprechen konnte. Der Äthiopier war so ganz Ohr für die Heilige Schrift, dass er auch ganz Ohr sein konnte für die Erklärung des Apostels und sich am Ende taufen ließ. Gott kommt durch das Ohr.

Der Text wird zur Anrede
Ich persönlich mache damit sehr gute Erfahrungen: wenn ich den Text laut lese und mir beim Sprechen zuhöre. Sicher dauert es viel länger, als wenn ich ihn nur mit den Augen überfliege. Aber gerade schwierige, sperrige Passagen aus der Bibel erschließen sich mir eher, wenn ich sie mir vortrage. Manchmal stocke ich, lese das Ganze noch einmal, kaue gewissermaßen die Worte wieder, bis sie mir etwas sagen. Aber auch ganz vertraute Schriftstellen wie das Evangelium des heutigen Festes werden wie neu. Durch das laute Lesen bleibe ich plötzlich an ungewohnten Stellen hängen. Mir fallen Einzelheiten auf, die ich bislang übersehen habe. Ich fange etwa an zu überlegen, wie sich das anhörte, als der Engel Maria begrüßte, in welchem Tonfall die Jungfrau sprach, als sie nachfragte und als sie dann Ja sagte. Ich versetze mich in die Situation hinein und merke zu meinem Erstaunen: Der Text wird zur Anrede, das Wort zur Szene. Wenn ich laut lese, wird das Wort mehr als ein Denkanstoß, es wird Herzensnahrung, nicht mehr nur Material zum Nachgrübeln, sondern kräftige Speise: zum Schmecken und Auskosten.
Probieren Sie es doch einmal selbst und lesen Sie sich zum Beispiel das Evangelium des heutigen Tages laut vor oder auch ein Wort, mit dem Sie Ihre Probleme haben. Tun Sie das natürlich am besten im stillen Kämmerlein … Kann sein, dass es zunächst merkwürdig ist für Sie: die eigene Stimme zu hören. Ich möchte Sie bestärken: Haben Sie Vertrauen in Ihre Stimme. Sie ist ein großartiges Instrument, das Gott Ihnen gegeben hat und das er in Dienst nehmen möchte, um Ihnen eine gute Nachricht zu bringen. Seien Sie ganz Ohr für sich – und für den Herrn, der durch Ihre Stimme zu Ihnen spricht. Dann werden Sie ebenfalls die Erfahrung machen: Wer laut liest, hat mehr vom Lesen – und hat mehr vom Leben, vom Leben mit Gott. Denn Gott kommt durch das Ohr.

Volker Sehy

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