archivierte Ausgabe 4/2013 |
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Die Schriftleitung |
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Leseprobe 1 |
Fünfzehnter Sonntag im Jahreskreis - 14. Juli 2013 |
II. Und – wer ist mein Nächster? (Lk 10,25–37) |
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Zielsatz: Der Weg von Jerusalem nach Jericho führt mitten durch unseren Alltag. Das Gleichnis lädt zu einem neuen »Sehen« ein. Dieser neuen »Sicht« will diese Predigt nachgehen.
Sich bücken
Der aufrechte Gang ist der dem Menschen gemäße. Ein Tier geht normalerweise zur Erde gewandt. Der Mensch geht aufrecht. Trotzdem – wie oft bücken auch wir uns. Ich meine nicht das Buckelmachen vor einem Höhergestellten. Das angstbesessene Sich-Ducken vor jemandem. Ich meine das Sich-Bücken. Wir bücken uns nach der zerbrochenen Tasse, nach dem Buch im unteren Regal des Bücherschranks; zu der Blume im Garten, zu dem Säugling im Kinderwagen. Der Forscher beugt sich über das Elektronenmikroskop, um zu erfahren, was die Welt im Innersten zusammenhält; der Historiker beugt sich über das alte kostbare Buch, der Sanitäter über den Verletzten, der Arzt über das Bett des Patienten, der Briefmarkensammler über die wertvolle Briefmarke in seinem Album.
Vieles im Leben »sieht« man nur, wenn man sich bückt.
»Sehen«
Vom »Sehen« erzählt auch die uns so vertraute Geschichte aus dem Lukasevangelium. Auf dem Weg zwischen Jerusalem und Jericho liegt ein Mann. Unter Räuber war er gefallen. Halbtot liegt er in einem Vadi, einem sonnenverbrannten Tal. Zwei kommen vorbei: Ein Priester und ein Levit, ein Tempeldiener. Sie sehen ihn und gehen vorbei. Der eine mag sich gedacht haben: Ich hab’s eilig. Ich muss pünktlich zum Tempeldienst kommen. Ich will mich nicht unrein machen durch die Berührung mit einem vielleicht schon Toten; der andere mag vom liturgischen Dienst schon wieder auf dem Weg nach Hause sein. Nur keinen »Zwischenfall« jetzt. Nur keine Unannehmlichkeiten, in die ich hineingezogen werden könnte. Vielleicht hat der selber schuld, hat einen Streit angefangen, jemanden provoziert, ist dabei zusammengeschlagen worden … Ich kann ihm nicht helfen. Wird schon ein anderer kommen, der ihm helfen wird. In ihrem aufrechten Gang sind sie überzeugt, rechtens gehandelt zu haben. Als ich einmal einen Bettler vor der Pfarrtür abgewiesen hatte, war ich den ganzen Abend unzufrieden mit mir. Habe ich ihn zu wenig »gesehen«? Ein Mann aus dem verhassten Samaria kommt nun des Weges geritten. Er »sieht« ihn und hat Mitleid mit ihm. Er steigt von seinem Reittier und bückt sich. Nach einer ersten Grundversorgung hebt er ihn auf sein Pferd und bringt ihn zur Weiterversorgung in eine Herberge.
Es gibt Situationen, da ist das Sich-Bücken notwendiger als der aufrechte Gang. Vieles im Leben sieht man nur, wenn man sich bückt.
Geh hin und handle ebenso!
»Geh hin und handle ebenso!« sagt Jesus. Nun – wir haben die Zuständigkeiten schön verteilt. Ist jemand krank, dann ist das Krankenhaus oder die Sozialstation zuständig. Für einen Obdachlosen ist die Caritas zuständig. Wenn ein Unfall passiert, dann fällt das in den Zuständigkeitsbereich der Polizei, der Feuerwehr, des Roten Kreuzes. Wenn ein Jugendlicher auf die schiefe Bahn gerät, dann ist das Jugendamt zuständig. Für alles haben wir unsere Fachleute und Experten, unsere »Zuständigkeiten«. Diese sind wichtig und notwendig. Denn Not braucht oft fachliche Beratung und Betreuung. Wir wären da überfordert. Wir können die Nöte der Menschen nicht alleine lindern und heilen. Wir brauchen professionelle Kräfte, müssen oft Menschen in Notlagen an Institutionen und sozialpsychologische Einrichtungen verweisen. Und wir sind dankbar, dass es diese gibt. Auch der barmherzige Samariter brachte den »Notfall« in eine Herberge. Aber immer geht es zuallererst um die Frage: Siehst du überhaupt die Not? Lässt du sie an dich heran? Lässt du sie zu deinem An-liegen werden? Versuchst du, zu handeln? Zu tun, was in deinen Kräften steht?
Neu »Sehen«
Sehen wir sie? – Die Frau in unserer Straße, die über die Scheidung so schwer hinwegkommt? Das Kind, das in letzter Zeit so lustlos und eingeschüchtert wirkt? Siehst du noch den jungen Menschen, der in seiner Suche nach Selbstfindung Niederlagen und Enttäuschungen erlebt?
Sehe ich jenen, der mit seinem Leben nicht mehr zurechtkommt und sich in Alkohol, in Drogen flüchtet, in Aktionismus? Sehen wir noch den Mann, der den Tod seiner Frau kaum bewältigen kann und sich immer mehr vom Leben zurückzieht? In einem Hochhaus im Stadtnorden starb eine alte, gebrechliche Frau. Niemand bemerkte es. Erst in der Todesanzeige las man davon. Vereinsamung inmitten eines Hochhauses. Not kann oft leise sein.
Mitten durch unseren Alltag führt der Weg von Jerusalem nach Jericho. Man kann mit den Augen sehen und doch nicht sehen. »Man sieht nur mit dem Herzen gut«, sagt der kleine Prinz bei Antoine de Saint-Exupéry. Vieles im Leben »sieht« man nur, wenn man mit dem Herzen »sieht«.
Die Straße von Jerusalem nach Jericho »neu« bauen
Die Geschichte vom barmherzigen Samariter lässt mich aber noch weiterdenken. Sie weist mich noch auf etwas anderes hin.
Gewiss ist es unsere erste Verpf lichtung, die Rolle des barmherzigen Samariters zu übernehmen – für jene, die am Weg liegengeblieben sind. Aber das ist nur das Eine. Wir müssen begreifen lernen, dass die Straße nach Jericho geändert werden muss, damit nicht mehr so viele unter die »Räuber« fallen.
Martin Luther King, Kämpfer für die Bürgerrechte in den USA, 1968 in Memphis ermordet, hat einmal geschrieben: »Ein Haus, das Bettler hervorbringt, muss umgebaut werden …«
Es geht nicht allein um konkrete Hilfe, wie wichtig sie im Einzelfall auch ist. Manchmal müssen auch Systeme und Strukturen umgebaut werden. Jeder Hungernde und Verhungernde auf dieser Erde, jeder unter die »Räuber« Gefallene, unter die »Räuber« des Kapitalismus, der Industriekonzerne und Wirtschaftsbosse, unter die »Räuber« von Ausbeutern, ist eine Anfrage, mehr noch eine Anklage an Systeme und Strukturen unserer Gesellschaftsordnung: »Wie gehst du mit dem Menschen um? Siehst du überhaupt noch den Menschen?« Reiche werden immer reicher. Arme immer ärmer. Während die einen ein Vermögen sammeln, haben andere nicht einmal das Existenzminimum zu ihrem Leben. Die Rüstungsindustrie verschlingt Milliarden von Unsummen; die paar Millionen Euro für Entwicklungshilfe sind eine Münze im Hut des Bettlers. Man redet von den Gewinnern der Globalisierung, von den Verlierern redet man nicht. Das Sparpaket der Bundesregierung geht eindeutig zu Lasten der Sozialschwachen. Ist das gerecht?
»Ein Haus, das Bettler hervorbringt, muss umgebaut werden …«
Der Fortschritt der Völker ist nur möglich auf der Grundlage von Gerechtigkeit, Solidarität und Achtung der Menschenwürde. Deshalb sind notwendig: eine gerechtere Verteilung der Güter und des Vermögens; mehr Mitbeteiligung der Schwächeren an den Gewinnen der Reichen. Hunger und Armut der Welt sind nicht Schicksal, sondern Schuld. In einer Gesellschaft, die den Wert des Menschen weithin ausschließlich nach Leistung und Erfolg bemisst, nach den Prinzipien der Rentabilität und Gewinnmaximierung, wo das Haben vor dem Sein kommt, wo der Vitale und Starke mehr gilt als der Schwache, der auf der Strecke bleibt, weil er mit dem Tempo der Leistungsgesellschaft nicht mehr mithalten kann, – in einer solchen Gesellschaft nehmen merkwürdigerweise neue Formen der Armut zu: Orientierungslosigkeit, Sinndefizit, Vereinsamung, Frustration, Depression, Unzufriedenheit. Spüren in unserer Gesellschaft auch Alte, Gebrechliche, im Leben Gescheiterte und am Leben Zerbrochene, auch Sterbende, dass sie eine unzerstörbare Würde haben; dass sie nicht nur ein »Sozialfall« sind, sondern immer noch auch eine Person?
»Ein Haus, das Bettler hervorbringt, muss umgebaut werden …«
Manchmal müssen Strukturen und Systeme umgebaut werden, um des Menschen willen, um Gottes willen.
Ich kehre zurück auf den Weg von Jerusalem nach Jericho. Darf man in dem Mann aus Samaria Jesus selbst erkennen, der sich herabbückt zu den Menschen, zu uns, mit unseren Verwundungen und Verletzungen; zu uns, die wir alle heilungs- und erlösungsbedürftig sind?
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Claus Peter Chrt |
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