archivierte Ausgabe 5/2008 |
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Die Schriftleitung |
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Leseprobe 1 |
Einundzwanzigster Sonntag – 24. August 2008 |
I. Von Gottes Unermesslichkeit (Röm 11,33–36) |
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Zielsatz: Paulus schließt sein Ringen um die Frage des Unglaubens seiner jüdischen Geschwister mit einem Blick auf die Unbegreiflichkeit Gottes. Auch wir müssen angesichts unserer Lebensfragen oft passen und die Unergründlichkeit Gottes bekennen.
Warum der Unglaube meiner jüdischen Geschwister? »O Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unergründlich sind seine Entscheidungen, wie unerforschlich seine Wege! Denn wer hat die Gedanken des Herrn erkannt? Oder wer ist sein Ratgeber gewesen? … Denn aus ihm und durch ihn und auf ihn hin ist die ganze Schöpfung sind alle Dinge« (Röm 11, 33–36). Der Apostel scheint überwältigt, geradezu hingerissen von der Wirklichkeit Gottes, von seiner schier unermesslichen Größe. Fast scheint er vom Boden abzuheben. Er tut es aber nicht. Paulus hat diesen Abschnitt in tiefer Niedergeschlagenheit geschrieben. Man muss den Zusammenhang der Kapitel 9–11 im Römerbrief lesen, der in eben diesen Text mündet. Paulus denkt über die Frage nach: Warum haben die Juden, Gottes auserwähltes Volk, nicht zum Glauben an Christus gefunden? Eine Frage, die ihn als Juden ungeheuer bedrängt und quält: »Ich sage in Christus die Wahrheit und lüge nicht, und mein Gewissen bezeugt es mir im Heiligen Geist, ich bin voll Trauer, unablässig leidet mein Herz. Ja, ich möchte selber verflucht und von Christus getrennt sein um meiner Brüder willen, die der Abstammung nach mit mir verbunden sind. Sie sind Israeliten; damit haben sie die Sohnschaft, die Herrlichkeit, die Bundesordnungen, ihnen ist das Gesetz gegeben, der Gottesdienst und die Verheißungen, sie haben die Väter, und dem Fleisch nach entstammt ihnen der Christus, der über allem als Gott steht, er ist gepriesen in Ewigkeit. Amen« (Röm 9,1–5). Paulus wird von der Frage geradezu umgetrieben: Wieso öffnet Gott meinem Volk nicht die Augen für die Wahrheit? Er ringt mit dieser Frage und grübelt darüber nach – doch eine Antwort findet er nicht. Und nachdem er sich an dieser Frage buchstäblich abgearbeitet hat, schließt er sein aussichtsloses Ringen mit diesem begeisterten Lobpreis auf Gott, dessen Gedanken kein Mensch je durchschauen kann. Er sagt: Ich stehe vor einem Rätsel. Mein Denken verliert sich im Dunkeln. Vieles bleibt offen und ungelöst. Gott bleibt immer der Unbekannte, der Größere, dessen Weg ich nicht begreife. Aber auf eines verlasse ich mich, auf eines vertraue ich: Der unbegreifliche Gott hält seine Hand über mich – und über meine Glaubensgeschwister. »Gott hat sein Volk nicht verstoßen, das er einst erwählt hat« (Röm 11,2). »Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt« (Röm 11,29). Gott bleibt seinem Volk treu, trotz aller Irrwege. Unser Leben geht auf ihn hin – auch das Leben meiner ungläubigen Geschwister.
Aporien in unserem Leben Wie oft geht es uns in unserem Leben ganz ähnlich! Wir stehen vor vielen Fragen: Warum habe ausgerechnet ich diese schwierige Veranlagung mitgekriegt, diesen Hang zum Grübeln und zur Depression? Warum ist ausgerechnet meine Ehe kaputt gegangen? Warum bin ich allein geblieben? Warum sind unsere Kinder so weit vom Glauben weggekommen, obwohl wir uns doch wirklich Mühe gegeben hatten? Warum sind so viel Leid und Unglück in der Welt, warum trifft es manche Menschen im Übermaß? Warum muss das Leben so vieler Menschen misslingen, verkommen, scheitern? – Fragen über Fragen. Aussichtslos, darauf eine Antwort zu finden. Ein guter Bekannter von mir hat ein unglaublich schweres Jahr hinter sich. Ich habe ihn in diesem Jahr oft besucht. Er fühlte sich manchmal völlig vereinsamt, ganz am Ende. Jetzt, vor ein paar Wochen, sagte er mir: »Wenn ich auf dieses Jahr zurückblicke: Es war gut so. Es hat mich weitergebracht. Ich stehe jetzt woanders als vor einem Jahr. Es hat sich vieles geklärt.« So geht es uns ja oft. Aber wir können das meist erst im Nachhinein sagen. Und wir können es auch nur selber sagen. Würde ein anderer es uns von außen vermitteln, wenn wir noch mitten in unseren Problemen drin sind, wir würden es eher als Hohn empfinden. Solche Erfahrungen sind kostbar. Vermutlich könnten viele von uns davon erzählen, wie sich nach langem Leid Dinge geklärt haben. Wie man irgendwann nach langer Trauer plötzlich neue Lebensenergie empfing, neue Freude am Leben fand – wie ein Geschenk. Versöhnung geschieht, wo man es schon gar nicht mehr erwartet hat. Solche Erfahrungen sind kostbar. Ich möchte uns allen wünschen, dass wir immer wieder zu dem Punkt hinfinden, wo wir mit Paulus sagen können: Trotz aller Fragen, trotz aller Rätsel, die uns manchmal ganz schön zu schaffen machen, trotz aller Widersprüche in dieser Welt, trotz aller Enttäuschungen in meinem Leben, trotz aller Angst, trotz meiner eigenen Versäumnisse und meiner Schuld: Ich verlasse mich auf Gott. Ich werfe meine Sorgen auf ihn. Ich überlasse mich ihm. Er hält dennoch seine Hand über unser Leben. Und wir alle sind zu ihm unterwegs: Denn aus ihm und durch ihn und auf ihn hin sind alle Dinge.
Dennoch: dem unbegreiflichen Gott vertrauen In den letzten Jahren habe ich des Öfteren Leute sagen hören: In unserer heutigen Welt, deren Unendlichkeit uns immer mehr bewusst wird, angesichts der riesigen Räume des Kosmos mit ihren Milchstraßen und Galaxien ist uns der traditionelle Glaube an einen persönlichen Gott nicht mehr möglich. Vor einigen Jahren hat ein Theologe das in einer Zeitschrift behauptet. Ausgerechnet ein Naturwissenschaftler hat ihm dann in einem Leserbrief heftig widersprochen. Schon die Bibel weiß von der Unermesslichkeit Gottes, die alle unsere menschliche Vorstellungskraft weit übersteigt. Paulus weiß davon, aber an dieser Römerbriefstelle zitiert er noch viel ältere Texte, aus dem Propheten Jesaja, aus dem Buch Ijob und aus den Psalmen. Gläubigen Menschen ist immer bewusst gewesen, wie wenig unsere begrenzte Erkenntnisfähigkeit in der Lage ist, Gott in seiner Größe und Unermesslichkeit zu fassen. Je länger ich darüber nachdenke, desto deutlicher wird mir: Wir haben heute nicht grundsätzlich andere Probleme als die Menschen der Bibel. Die Probleme sind nur graduell anders. Auch Menschen der Bibel haben oft mit angehaltenem Atem vor der Größe der Welt gestaunt und etwas von der noch größeren Unermesslichkeit Gottes geahnt. Mit ihnen kann ich auch als Mensch des 21. Jahrhunderts, gerade im Bewusstsein der Unvorstellbarkeit des Kosmos, sehr bewusst in das Bekenntnis einstimmen: Denn aus ihm und durch ihn und auf ihn hin sind alle Dinge.
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Hubert Brosseder |
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