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Die Schriftleitung
Leseprobe 2
Das Thema: Mitten im Alltag
Lebensmosaik
Eine Werktags-Leseordnung als Hilfe für »das Ganze im Fragment«

Zum Hintergrund der Idee

In seiner »Konstitution über die heilige Liturgie« (Sacrosanctum Concilium) im Jahre 1963 hat das Zweite Vatikanische Konzil auch ins Auge gefasst, die bis dahin gültige Leseordnung in der Eucharistiefeier für Sonntage und Werktage zu verändern. Für den Auftrag der Konzilsväter an die entsprechende Kommission, dieses Projekt auszuführen, gab es drei Zielsetzungen: Der Tisch des Gotteswortes sollte reicher bereitet werden; dazu sollte die Schatzkammer der Bibel weiter geöffnet werden; innerhalb weit gespannter Rhythmen sollten die wichtigsten Teile der Heiligen Schrift dem Volk Gottes vorgelegt und zu Gehör gebracht werden (SC 51). Schon 1969 konnte aufgrund etlicher Vorarbeiten eine komplett erneuerte dreijährige Leseordnung für die Sonntage, eine zweijährige Reihe für die Werktage sowie die Auswahl der Schriftlesungen für die Heiligenfeste und verschiedene Anlässe in Kraft gesetzt werden. Dabei ist vor allem das Alte Testament gestärkt worden. Im entsprechenden Dekret wird betont, dass die Heilige Schrift die Quelle der inneren Erneuerung und des geistlichen Lebens des Gottesvolkes ist. Sie soll zur immer tieferen Erkenntnis der Wahrheit führen und reichere Nahrung für das alltägliche Leben bieten. Es wird auch deutlich, dass der Sinn der Leseordnung sich sowohl im Lesen als auch in der Auslegung entfaltet. Der Grundsatz dafür findet sich an anderer Stelle in der Liturgiekonstitution: »Von größtem Gewicht für die Liturgiefeier ist die Heilige Schrift. Aus ihr werden nämlich Lesungen vorgetragen und in der Homilie ausgedeutet, aus ihr werden Psalmen gesungen, unter ihrem Anhauch und Antrieb sind liturgische Gebete, Orationen und Gesänge geschaffen worden, und aus ihr empfangen Handlungen und Zeichen ihren Sinn« (SC 24). Immer wieder neu will das Verhältnis von Bibel und Liturgie abgestimmt werden. Implizit wird im Dekret eingestanden, dem Volk Gottes diesen Quell bzw. diese Nahrung lange vorenthalten zu haben. Positiv gewendet bedeutet diese Neuordnung, dass die christliche Frömmigkeit biblisch begründet und vertieft wird – oder sie ist keine christliche Frömmigkeit. Eine vordergründige Zentrierung auf Jesus Christus wird unterfangen und auf ein viel breiteres und tieferes Fundament gestellt. Das allerdings setzt voraus, dass die »Ausleger« selbst vertraut sind und immer mehr vertraut werden mit der Heiligen Schrift und durchaus auch eine Konsonanz von Lesung und Evangelium suchen.

Ausgangspunkt für die seit 1969 neu geltende Leseordnung für die Werktage ist die damals allgemein übliche Praxis, täglich in der Gemeinde Eucharistie zu feiern, in etlichen größeren Gemeinden oft mehrmals am Tag, am frühen Morgen und nach und nach auch am Werktagabend. Darauf ist das ganze Konzept ausgerichtet, wenn man allein nur die Auswahl der (parallel verlaufenden) Bahnlesungen als Basis der Leseordnung betrachtet. Der Wortgottesdienst mit Lesung, dem darauf bezogenen Zwischengesang und dem Evangelium bedurfte (und bedarf ) sorgsamer Gestaltung, damit der »Hunger nach dem Wort Gottes« größer wird und die Heiligen Schriften »für alle zum gleichen unversieglichen Quell geistlichen Lebens, zur Grundlage der Glaubensunterweisung und zum Herzstück aller theologischen Lehre werden« (Papst Paul VI., Apostolische Konstitution Missale Romanum, 1969).

Es gab Fragen an die Auswahl der Schriftlesungstexte an Sonntagen wie auch an Werktagen ebenso wie zahlreiche Vorschläge zur Reformulierung. Sie reichten von der Frage nach dem Stellenwert, der textlichen Abgrenzung und dem »Gebrauch« des Alten Testaments, nach dem Bezug der alt- und neutestamentlichen Lesungen untereinander bis hin zur Überlegung, was denn die »wichtigsten Teile der Heiligen Schrift« seien und wer dafür einen Kanon erstellt hat. Denn offensichtlich war er unausgesprochen in der Auswahl inbegriffen und musste eigenständig erschlossen werden. Eine öffentliche Begründung gab es nicht. Darum geht es heute nicht mehr. Entscheidend ist, dass sich die damalige Ausgangslage drastisch verändert hat: In sehr vielen Gemeinden gibt es im Laufe der Woche höchsten noch eine Eucharistiefeier oder gar keine. In dieser Lage hilft die alte Leseordnung nicht mehr. Jede Auswahl aus den vorgegebenen Lesereihen ist schwierig. Manche Vorsteher der Liturgie wählen unhinterfragt den vorgegebenen Text aus der alten Leseordnung für den jeweiligen Tag, der dann willkürlich ohne Bezug zum Tag davor und danach erscheint. Am Donnerstag der 2. Woche im Jahr I etwa ist Hebr 7,25 – 8,6 vorgesehen. Da würde es erheblicher Mühe bedürfen, diesen Text einem Verständnis zuzuführen. Am Montag der 19. Woche im Jahr I ist Ez 1,2–5.24–28c ausgewählt. Der Zusammenschnitt dieser Lesung selbst schafft mit lauter fremden Bildern keine spontane Hörfreude. Im Jahr II ist Gal 3,22–29 zwar eine fortlaufende Lesung, doch der Einsatz hätte sinnvoll bei 3,19 mit der Frage gelegen: »Warum gibt es dann das Gesetz?« Der jetzige Abschnitt setzt mitten in einer Argumentationslinie ein. Manche Liturgen wählen eigenständig Texte aus, stoßen dabei jedoch schnell auf ihre Lieblingstexte, die einen unverhältnismäßigen Stellenwert im Ablauf eines Jahres bekommen. In manchen Gemeinden etabliert sich wöchentlich ein werktäglicher Wortgottesdienst, der zudem nicht mehr von Priestern, sondern von Laien vorbereitet und gehalten wird. Jedoch: Woher soll ein Leitfaden genommen werden für den einen Wortgottesdienst in der Woche? An dieser Stelle muss die Weiterentwicklung der für diese Situation nicht mehr tragfähigen bisherigen Leseordnung beginnen.

Der folgende Vorschlag greift diese Situation auf und hat als Kernanliegen, dass die Metapher vom »Tisch des Wortes« willkommene Zutaten und Zubereitungen ermöglicht, damit das Wort Gottes in einem Wortgottesdienst als heilend, als sakramental und geistlich nährend erfahren werden kann. Der Vorschlag will keine »Zumutung« sein, sondern den »Mut zu« einer lebendigen Auslegung in der liturgischen Feier bestärken.

Von der Idee zum Plan

Diese Idee1 zur werktäglichen Leseordnung hat als Haftpunkt den Rhythmus der Sonntagsperikopen. Der folgende Plan ist kein Sammelsurium, auch wenn er Schrifttexte aus unterschiedlichen Zeiten und Situationen zusammenbindet. Die Lesungsabschnitte gehören zu unterschiedlichen Textsorten: Es gibt Erzählungen; es gibt Metaphern, die helfen, dass einem die Augen aufgehen; es gibt Reden, auch Mahnreden; es gibt Lebensprofile als »Lebenslesarten« usw. Je nach dem Charakter der Jahreszeit bindet sich die Auswahl an die Sonntagsperikopen (Advent), wählt eher wenig beachtete Lesungen aus (Weihnachtszeit), stellt die alttestamentlichen Lesungen der Fastenzeit in ihrer eigenen Dynamik in den Mittelpunkt und hebt – systematisch zusammengestellt – Bilder der Erlösung, also der Befreiung von falschem Leben und Tod, in das österliche Licht. Metaphern überbrücken große Abstände, binden auseinanderliegende Sinnbezirke zusammen, holen Erfahrungsgehalte aus der Wirklichkeitswelt ein. Im Jahreskreis sind das Markusevangelium und das Deuteronomium sowie biblische Gestalten die roten Fäden. Manche Haftpunkte werden in den Überschriften deutlich. Der Hauptlesung ist jeweils ein zweiter Schrifttext zur Seite gestellt (kursiv), der aufgrund hermeneutischer Überlegungen als Kommentar zur Hauptlesung dienen soll. Quelle von allem ist Jesu Botschaft vom Gottesreich, das andere, menschen- und schöpfungsgerechte(re) Verhältnisse stiftet und schon jetzt Wirksamkeit beansprucht. Die Botschaft vom angebrochenen Reich Gottes drängt auf ein neues Hören und auf eine Entscheidung im Glauben. Immer geht es darum, wie wir Gottes Unendlichkeit an unsere eigene Endlichkeit heranreichen lassen können, damit wir vor seinen (auf-)richtend-barmherzigen Blick kommen.

Advent: Visionen über das Ziel des Gottesvolkes und der Völker

Erste Adventswoche:
Jes 63,15 – 64,8: Der Himmel soll zerreißen (Mk 13,24–37)

Zweite Adventswoche:
Jes 40,1–11: Das Gottesvolk als Freudenbotin auf dem Weg in die Freiheit (Mk 1,1–8)

Dritte Adventswoche:
Jes 61,1–11: Proklamation des Heilsboten (Joh 1,6–8.19–28)

Vierte Adventswoche:
2 Sam 7,1–16: Gottes Haus und Erwählter als Mitte (Lk 1,26–38)

Weihnachtszeit: Lebensvisionen
Weihnachtsoktav:
Titus 3,4–7: Neugeburt (Lk 2,15–20)

Weihnachtszeit I:
Gal 4,4–7: Erfüllte Zeit (Mk 1,14–15)

Weihnachtszeit II:
Titus 2,11–15: Neues Leben (Joh 3,3–8)

Weihnachtszeit III:
Jes 60,1–6: Licht sein (Mt 2,1–12)

Weihnachtszeit IV:
Jes 55,1–11: Geschmack am Leben (Joh 7,37–41a)

Fastenzeit: Lebensrhythmen
Erste Fastenwoche:
Gen 9,8–15: Der Bund als Basis (Mk 1,12–15)

Zweite Fastenwoche:
Gen 22,1–18: Erprobung auf dem Weg (Mk 9,1–9)

Dritte Fastenwoche:
Ex 20,1–17: Weisung zum Leben (Joh 2,13–25)

Vierte Fastenwoche:
2 Chr 36,11–12: Ständige Gefährdung zum Abfall (Joh 3,14–21)

Fünfte Fastenwoche:
Jer 31,31–34: Erneuerter Bund (Joh 12,20–33)

Karwoche:
Jes 52,13 – 53,12: Die verwandelnde Kraft des Gewaltlosen (Mk 14,43–52)

Osterzeit: Bilder der Erlösung / Erweis der angebrochenen messianischen Zeit
Osterwoche:
Apg 3,1–10: geheilt (Joh 10,22–31)

Zweite Osterwoche:
Gal 4,1–7: freigekauft aus Sklaverei (Mk 1,13–15)

Dritte Osterwoche:
Röm 8,31–39: bezahlte, nachgelassene Schuld (Joh 3,16–17)

Vierte Osterwoche:
Röm 8,1–8: freigesprochen, begnadigt (Mk 6,35–56)

Fünfte Osterwoche:
2 Kor 5,17–21: versöhnt (Lk 10,16)

Sechste Osterwoche:
Gal 3,26–29: übereignet = Christus gehören (Mk 10,35–40)

Siebte Osterwoche:
Röm 6,3–11: gereinigt und neu belebt (Mk 10,32–34)

Im Jahreskreis: Gottes Königsherrschaft ist nahegekommen Eine neue Zeit
Erste Woche:
Mk 1,14f: Vollmächtige Ansage (Dan 7,21–22)

Zweite Woche:
Mk 1,21–34: Vollmächtiges Wirken (Apg 3,11–14)

Dritte Woche:
Mk 4,35–41: Macht über den Tod (Ps 104,6f )

     Ändert euren Sinn
Vierte Woche:
Mk 8,31 – 9,1: lernen (Ps 119,10–16)

Fünfte Woche:
Mk 9,36–38; 10,13–16: wie Kinder werden (Ps 131)

Sechste Woche:
Mk 10,46–52: sich von Blindheit befreien lassen (Jes 17,7–8)

     Der guten Nachricht vertrauen
Siebte Woche:
Mk 11,1–11: Der Weg ins Zentrum (Sach 9,9)

Achte Woche:
Mk 12,41–44: Vertrauen bis zum Letzten (1 Kön 17,8–16)

Neunte Woche:
Mk 14,1–2.10–11: Standhalten im Äußersten (Dtn 16,1–8)

Zehnte Woche:
Mk 15,1–15: Sich auf Jesu Seite ziehen lassen (Jes 53,7)

     Eine neue Chance
Elfte Woche:
Dtn 1,1–8: Auf der Grenze leben (Lk 1,46–56)

Zwölfte Woche:
Dtn 4,1–14: Lebensweisungen annehmen (Röm 10,8–11)

Dreizehnte Woche:
Dtn 4,23–31: den Bund vertiefen (2 Kor 11,1–2)

     Leben im Bund
Vierzehnte Woche:
Dtn 5,1: Was aus dem Hören folgt (Jes 55,3)

Fünfzehnte Woche:
Dtn 5,2–22: Leben gestalten (Mk 2,23–28)

Sechszehnte Woche:
Dtn 6,4–24: Mit dem Herzen die Tora lernen (Mk 12,29–33)

Siebzehnte Woche:
Dtn 8,1–20: Erinnern oder vergessen (Mt 4,4)

     Leben vom Ziel her
Achtzehnte Woche:
Dtn 26,1–11: sichtbares Bekennen (Gen 46,1–4)

Neunzehnte Woche:
Dtn 28,69 – 29,8: Mit dem Blick zurück nach vorne gehen (Mt 13,10–16)

Zwanzigste Woche:
Dtn 30,6–20: Leben oder Tod wählen (Röm 2,28–29)

Im Jahreskreis: Lebenslesarten
Einundzwanzigste Woche:
1 Sam 17,20–46: David und Goliat (1 Kor 1,26–31)

Zweiundzwanzigste Woche:
1 Sam 18,1–5; 19,1–7: David und Jonatan (Eph 6,10–18)

Dreiundzwanzigste Woche:
2 Sam 11,2–5; 12.1–14: David und Batseba (Lk 19,8–10)

Vierundzwanzigste Woche:
2 Sam 7,1–17: David und Salomo (Apg 2,29–33)

Fünfundzwanzigste Woche:
2 Kön 1,1–8: Elija – die Herausforderung zur Entscheidung (Ex 15,26)

Sechsundzwanzigste Woche:
1 Kön 19,9–16: Elija – ein neuer Auftrag (Mk 4,35–41)

Siebenundzwanzigste Woche:
2 Kön 4,8–37: Elischa und die Schunemitin (Mt 10,40–42)

Achtundzwanzigste Woche:
2 Kön 5,1–19: Elischa und Naaman (Lk 17,11–19)

Neunundzwanzigste Woche:
2 Kön 19,1–19: Hiskija und das Gebet (Mt 11,23–24)

Dreißigste Woche:
2 Kön 19,20–34: Hiskija und die Rettung (Ps 48,1–15)

Einunddreißigste Woche:
2 Kön 22,1–20: Joschija und der Fund (Lk 18,34)

Zweiunddreißigste Woche:
2 Kön 23,1–3.21–23: Joschija und die Reform des Lebens (Hebr 10,5–9)

Dreiunddreißigste Woche:
Dan 2,14–49: Daniel und Gottes Geheimnisse (Ps 50,1–3a)

Vierunddreißigste Woche:
Dan 7,1–28: Daniel und der Traum vom Erlöser (Mt 24,29–1)

In diesem Jahrgang des PREDIGER UND KATECHET werden zu den ausgewählten Schriftstellen im Laufe des Kirchenjahres durchgehend Auslegungen in Kurzansprachen angeboten werden. Es wird eine »bunte Gnade« (vgl. 1 Petr 4,10) sein und doch mit einem durchgehenden roten Faden versehen sein. An dieser Stelle soll es statt eines kommentierenden Durchgangs durch die Jahresabschnitte um Überlegungen gehen, die einen gemeinsamen Nenner für alle Schrifttexte beleuchten.

Moralisches Missverständnis der Schrift

Zunächst gilt es, eine grundsätzliche Perspektive zu bedenken, die sich bei vielen Christen tief eingeprägt hat, dass nämlich das Christentum wesentlich Moral sei. Vielen Menschen ist tatsächlich der christliche Glaube in früheren, jedoch nachwirkenden Zeiten moralinsauer nahegebracht worden; darüber sind sie mit der Zeit »sauer« geworden und haben dieses Grundgefühl an die nachfolgende Generation weitergegeben. Eine andere Spielart desselben Musters ist, dass die Kirche selbst sich zu oft mit ihrer Nützlichkeit angepriesen hat. Da verwies man auf den Religionsunterricht, der das Grundgerüst für anständige Bürger vermitteln soll. Auch dass die Kirche sich um die Unfallopfer der Gesellschaft kümmere, wurde hervorgehoben und brachte in der Folge die Bestätigung ein, für den Staat nützlich zu sein. Beide Elemente sind wichtig, doch sind sie der Inbegriff des Evangeliums und der christlichen Frömmigkeit? Die Gefahr der Instrumentalisierung des Glaubens für eine vermeintliche Anerkennung ist groß. Kein Mensch wird gläubig, weil man ihm sagt, es sei gut, zu irgendeinem Zweck gläubig zu sein. Das würde Religiosität, Frömmigkeit, Spiritualität zu einer Art Autosuggestion reduzieren. Natürlich ist nicht von der Hand zu weisen, dass der Glaube zum hilfreichen Handeln motiviert. Die Geschichte bietet zahlreiche leibhaftige, kreative Vorbilder dafür auf. Doch bei näherer Betrachtung geht es zuerst immer um das Berührtsein im Glauben an das abgründige Geheimnis Gott. Das ist der Beginn, mit ihm gehen Menschen die Augen auf. Da finden Menschen das Ergriffensein im Glauben, den sie gar nicht allein nach innen leben können. Sie spüren den Drang, anderen auch die Augen dafür zu öffnen, den Glauben mit anderen zu teilen und zu leben. Dass niemand auf Dauer allein ohne andere gläubig sein kann, das steckt in der Kirche. Doch am Anfang steht immer die zuvorkommende Güte Gottes, die auf neue Wege führt. Sieht man die Bibel wie auch alle liturgischen Feiern als Handlungsanweisung, versperrt dieses moralische Missverständnis den Zugang zum lebendigen Glauben.

Erfahrungen eine Sprache leihen Die Auswahl vorgeschlagener Lesungen bietet keine Beispielerzählungen mit einer Moral am Ende. Moralisieren hat schnell mit einer vorgefertigten Meinung zu tun, die nur darauf wartet, verbreitet zu werden. Ob man in der Vielgestaltigkeit der Formen und Ausschmückungen nun eine Erzählung, eine Vision, einen Aufruf, eine Aufforderung, ein Glaubensbekenntnis, eine Art Gemälde oder einen Lobpreis vor sich hat, – alle Texte verarbeiten auf unterschiedliche Weise Erfahrungen. Deshalb können sie einerseits eigenen Erfahrungen eine Sprache leihen und andererseits diese Erfahrungen und die zu Erfahrungen gewordenen Erlebnisse anderer Menschen erschließen bzw. Anschlussgeschichten erwecken, die dem eigenen Leben eine neue Tiefe, ein neues Profil und manchmal auch neuen Glanz geben. Alle Texte haben einen Kontext, der sie erfahrungsdicht macht. Sie sind wie Steinchen in einem bunten Mosaik, die ihren Zusammenhang haben und Gott als den Grund und Sinn allen Lebens eröffnen. Sie verweisen als Fragmente auf das Ganze. Aus diesem Mosaik haben die Hörer/Leser der Heiligen Schrift von jeher gelernt, ihre Erfahrungen mit den einzelnen Bildteilen zu deuten und mit ihnen die verwandelnde Zukunft Gottes zu erwarten, in der Raum für alle Dimensionen des Lebens ist.

Wenn ein Wort an meine Mitte rührt

Jeder Text der Heiligen Schrift trägt in sich die Möglichkeit, sichtbar zu machen, was in einem Menschen an Hoffnungen und Befürchtungen vorgeht. Sind einzelne Menschen und ihre Lebensumstände etwa erzählt, können sich ihre Beweggründe zu einem bestimmten Handeln andeuten. Dann kann die Einbildungskraft eines Menschen in Bewegung gesetzt werden – und plötzlich ist jeder selbst im Mittelpunkt der Geschichte. Denn meine eigene Vorstellung sagt etwas von meinem eigenen Leben. Wenn ein biblischer Text mir zu einem Zeitpunkt begegnet oder wiederbegegnet, zu dem er mir etwa bedeuten kann, weil die Umstände dazu passen, vermag er an meine eigene Mitte zu rühren. Der Dichter Reiner Kunze beschreibt, dass »Kunst zu schaffen und Kunst zu erleben zu jenen geistigen Fähigkeiten des Menschen gehören, die es ihm ermöglichen, nicht zu verzweifeln, obwohl er sich seiner Sterblichkeit bewußt ist.«2 So mag es – in der Übertragung – auch dem suchenden Gläubigen ergehen in der Vorbereitung (!) wie auch im Erleben eines Gottesdienstes. Sie ermöglichen ihm vielleicht, nicht zu resignieren oder zu verzweifeln, obwohl er sich mancher Vergeblichkeit und seiner Sterblichkeit bewusst ist. Daraus kann sich eine positive Kraft entwickeln, die ein anderes Weiterleben anstößt aus einer reicheren Mitte heraus. Denn das Hören mit dem Herzen kann den einzelnen dahinführen, Mitte zu gewinnen, vielleicht in der Folge mit der Schrift zu leben. Aus ihr erwachsen Chancen, das Leben in seinen bunten Möglichkeiten zu erfahren, weit weg von jeder Form von Indoktrination, die am ehesten müde macht wie jede Ideologie.

Lichter Alltag

Mit einer unvorhergesehenen Wendung überrascht der erste Johannesbrief im Eingangsteil, um eine Tiefensicht christlichen Lebens einzuleiten: »Wenn wir im Licht wandeln …« (1 Joh 1,7). Die Worte lassen sich auch so übertragen: »Wenn wir im Aufgang des Lichtes leben …« Wie kann es gelingen, dass ich hoffnungsvoll-gläubig leben kann und mich darin bewähre, dass ich auf ein Ziel setze und gar erhoffe, dort erwartet zu werden? Diese Frage ist der Hintergrund des Halbsatzes. Die übliche Gegenüberstellung von Alltag und Feiertag ist hier aufgehoben. Das »wandeln« meint ein stetiges Leben, das ein klares Profil bekommt. Auch wenn die Konzentration heute eher auf der »freien Zeit« liegt, kennt das normale Leben überwiegend »Alltag«. Er kann mit seinem festen Rhythmus und stabilen Kontakten Halt geben und auch erfüllend und belebend sein. Dennoch ist er für viele mit »Trott, Last, Müdigkeit« verbunden. Alltag – das ist eben auch das Normale und verläuft im Empfinden ohne größere Überraschung. Er bedeutet für manche auch die Angst zu versagen, nicht zu genügen, zu kurz zu kommen. Diese Angst ist nie nur hinderlich. Sie hat eine Schutzfunktion, sie warnt z. B. vor Gefahren. Sie kann allerdings auch den freien Fluss des Lebensatems hemmen. Der erste Johannesbrief bietet einen anderen Ansatzpunkt für Alltag und Feiertag an. Er sagt: Gott ist Licht! Und deshalb gilt: »im Aufgang des Lichtes leben, nicht im Untergang des Lichtes, in der Finsternis.« Es gibt eine »Vor-Gabe«, der ich auf die Spur kommen kann. Diese Ermunterung wird durch eine weitere »Wortscherbe« in Vers 10 konkretisiert, nämlich: »Sein Wort – in uns« (1 Joh 1,10; vgl. Joh 14,24). Im Wort zeigt sich die Wahrheit Jesu, und das soll die lebensbestimmende Kraft sein, die aus dem Tod in das Leben führt (vgl. Joh 5,24). Hier ist der Hinweis des ersten Johannesbriefes begründet: Wer aus dem im Wort geschenkten Bewusstsein der Vorgabe des göttlichen Lichtes, eines größeren heilen Zusammenhangs, der alles trägt, durchdringt und bestimmt, leben kann, wer also der göttlichen Gegenwart trauen lernt und sich von ihr prägen lässt, wird immer neu das Nichtselbstverständliche entdecken, das das Leben durchzieht. Es kann die verschlossen scheinende Welt öffnen und die Gewichte des Lebens neu ordnen helfen. Vielleicht kann es dann geschehen, dass jemandem immer neu die Augen aufgehen und er wissen will, was in der Luft liegt, was auf ihn, auf uns alle zukommt, wo der Anker seiner Hoffnung liegt. Eine aus dem heilenden Wort der Heiligen Schrift genährte Alltagsspiritualität oder gar Alltagsmystik kann sich der Widerständigkeit und den Zumutungen des Lebens eher stellen, ohne zu resignieren und daran zu verzweifeln – Schritt für Schritt und im immer neuen Beginnen.

Göttliches Einwirken durch das Wort Das Wort Gottes ist wie ein Ruf, Endliches mit Unendlichem in Spannung zu halten und nicht auszuweichen. Diese Lebensaufgabe gehört zur Verkündigung. Der Ruf besagt, dass jeder Mensch mehr Möglichkeiten hat, als er ahnt, dass jedoch auch eine neue Dynamik beginnt, wo der Ruf auf das trifft, wo man sich eingerichtet hat. Dieser Ruf trifft auf Ängste, auf Widerspruch und Ausf lüchte. Doch genau da gibt es die Verheißung, die der Angst die Enge nimmt, weil sie Appetit auf ein Leben macht, das »unendlich« schmeckt und Fülle verheißt. Das hat Jesus selbst getan. Wenn es in Joh 10,10 heißt: »Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben«, ist das nicht vitalistisch misszuverstehen. Der das sagt, ist der gute Hirt, der »sein Leben hingibt für die Schafe«. In dieses »Leben in Fülle« ist der Tod eingearbeitet, der aus der Lebenshingabe erwächst und Leben ermöglicht. Der »Geschmack« am Unendlichen geht in die Tiefe, an den Grund des Lebens, bleibt nicht an der Oberf läche. Das Wort Gottes zu verkündigen ist ein Dienst, bei der Geburt im Leben zu helfen – einer Geburt, die mit der Angst verbunden bleibt, das Leben zu verlieren oder an ihm nicht satt zu werden. Diese Angst hat Platz im Glauben, doch sie behält nicht das letzte Wort. Sprechende und Hörende des Wortes Gottes (be-)zeugen gemeinsam einen Glauben, der stärker ist als alle Angst, weil sie Gottes Unendlichkeit an unsere Endlichkeit heranreichen lassen. So lässt sich dem Glauben dienen, ihn stärken und ihn feiern aufgrund der ausströmenden Kraft des Wortes Gottes. Von früh an hat die Menschen immer neu die Frage bewegt, warum Gott nicht eingreift bei schier unlösbaren Problemen und Nöten. Immer neu hat sich die Erfahrung vermittelt, dass er nicht eingreift, wohl jedoch, dass er auf uns Menschen einwirkt, wenn wir uns auf seinen Heiligen Geist ausrichten, wenn wir unsere Sinne auf sein Wort lenken. Denn Seine Worte werden uns und die Welt erneuern.

Kann die Welt erneuert werden? Die Dichterin Gabriele Wohmann schreibt: »Ich weigere mich, nicht zu hoffen. So phantasielos werde ich bestimmt niemandem zuliebe hier auf der Erde herumleiden.«3 Das gehört zu einem glaubenden Menschen: die Weigerung, nicht zu hoffen. In diese Hoffnung gehört auch die Verkündigung des Gotteswortes, die dazu beitragen kann, dass die Erneuerung des Menschen und der Welt vorankommt.

Anmerkungen
1 Die Idee geht auf einen Anstoß von Siegfried Kleymann zurück.
2 Reiner Kunze, Die Richtung des Kunstwerks, etp 20, Hauzenberg 1986, o. S.
3 Gabriele Wohmann, Schönes Gehege, 1975, 69.


Paul Deselaers

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