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Leseprobe 2 |
DAS THEMA: UNSERE HOFFNUNG – HEUTE |
Hoffnung auf Leben und Tod |
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Abrahams Beispiel – bei Paulus und heute
Abraham ist der »Vater vieler Völker« – so charakterisiert ihn Paulus (Röm 4,17–18) mit der jüdischen Tradition (Sir 44,19), die er sich neu aneignet, seitdem Gott ihm Jesus als seinen Sohn offenbart hat (Gal 1,16). Juden, Christen und Muslime berufen sich auf Abraham, wenn sie auch seine Geschichte anders lesen und verstehen. Abraham steht in der Bibel nicht nur für sich selbst, sondern auch für seine vielen Nachkommen, zahlreich wie die Sterne des Himmels (Gen 26,4) und der Sand am Meer (Jes 10,22; Röm 9,27). Nomen est omen: »Man wird dich nicht Abram nennen – Abraham wirst du heißen, denn zum Vater vieler Völker (ab hamom) habe ich dich bestimmt«, so zitiert die Genesis ein Gotteswort, das den hebräischen Namen erklärt (Gen 17,5). Abrahams »Same« wird ein »Segen für alle Völker« sein (Gen 12,3) – mit dieser Verheißung ist Israel unterwegs, mit ihr beginnt Jesus seine Verkündigung (Mt 1,1), mit ihr startet auch die christliche Mission unter den Völkern (Gal 3,6–18).
Wer sich mit Abraham beschäftigt, landet nicht in der Vergangenheit, sondern verbindet sie mit der Gegenwart und der Zukunft. Dass Religionen nicht den Krieg befeuern, sondern mit Gottes Segen Frieden stiften, ist das Erbe Abrahams, bis heute, bis mitten hinein in die Auseinandersetzungen um Israel und Palästina. Abraham ist ein Migrant, wie er im Buch steht (Hebr 11,8–12), ein Grenzgänger zwischen Mesopotamien und Ägypten, den beiden Weltmächten um 1000 vor Christus, und ein Vater, der seinen Sohn, das Kind des Lächelns, Isaak, doppelt von Gott empfangen hat: einmal von Sara, seiner Frau (Gen 21), und ein zweites Mal auf dem Berg Morija, dem Gipfel der Versuchung, da er seinen – erwachsenen – Sohn, der freiwillig mit ihm geht, Gott hingibt, um ihn von Gott geschenkt zu bekommen (Gen 22).
Das paulinische Paradigma
Paulus hat Abraham als einen Mann des Glaubens charakterisiert. Er knüpft an die biblische Überlieferung an (Gen 15,6), weicht aber von der herrschenden Lesart der Pharisäer ab, wenn er nicht die Bindung Isaaks als Echtheitsprobe sieht, sondern Abrahams Berufung, aufzubrechen von Ur in Chaldäa, um das Land der Verheißung zu erreichen, wo sich seine Sendung erfüllen wird, allen menschlichen Widrigkeiten zum Trotz (Gen 12).
Die Glaubensperspektive, alttestamentlich verwurzelt und neutestamentlich aufgeschlossen, wird typisch christlich. Sie vereinnahmt Abraham aber nicht, sondern markiert einen menschlichen Standpunkt, der nicht starr, sondern in der Orientierung an Gott beweglich ist – auf den Wanderungen, auf denen Abram Abraham wird: Die Verheißung der Nachkommenschaft beginnt sich zu erfüllen, die Patriarchen überwinden den Patriarchalismus, weil sie starke Frauen finden und hoffungsvolle Kinder haben, Gottes Weisung befreit sie von den Fesseln ihrer Herkunft und führt sie in das Reich der Freiheit, auch als Nomaden, Randsiedler und Geduldete ohne Bürgerrecht.
Paulus schreibt über Abraham, weil er den Römern Mut zum Glauben machen will. Er braucht die Unterstützung der Hauptstadt-Gemeinde, um seine weitausgreifenden Missionspläne zu realisieren, die ihn bis nach Spanien führen sollen (Röm 15,24). Er kennt die Reserven gegenüber der Freiheit seiner Mission, deren Melodie Johann Sebastian Bach vertont hat: »Nun komm, der Heiden Heiland«. Bedenken machen Pharisäer geltend, auch inmitten der Kirche, denen das Gesetz heilig ist (vgl. Apg 15,5). Paulus argumentiert für die Gleichberechtigung von Juden und Heiden, von Sklaven und Freien, von Männern und Frauen in der Kirche (Gal 3,26–28). Es sei verfehlt, das Heilsvertrauen auf »Werke des Gesetzes« zu gründen, auf die gehorsame Befolgung von Geboten in der Hoffnung, durch sie mit Gottes Hilfe gerettet zu werden; richtig sei es, auf den Glauben zu setzen (Gal 2,16; Röm 3,28): auf das Bekenntnis zu Gott in der Person Jesu und auf die Erkenntnis des Evangeliums in der Kraft des Geistes, auf das Vertrauen in Gottes Verheißung und das Verhalten gemäß den Geboten, die im Liebesgebot kulminieren (Gal 5,13–14; Röm 13,8–10), auf die Befreiung zur Freiheit (Gal 5,1) und die Erlösung in Christus (Röm 5,1–11).
Für diese Antithese spricht die Vernunft: weil Gott nur im Glauben bejaht werden kann und sich kein Mensch durch Verweis auf ein Gesetz, sei es noch so gut, zu retten vermag. Für die Antithese zwischen den Gesetzeswerken und dem Christusglauben spricht aber auch die Heilige Schrift: Abraham ist das Paradebeispiel. Paulus bietet all seine Schriftgelehrsamkeit auf, um eine Lektüre zu begründen, die von Jesus inspiriert ist, dem Christus. Abraham muss man von Gott her verstehen und seinem universalen Heilswillen. Deshalb darf der Glaube, der rechtfertigt, nicht von der Beschneidung abhängig gemacht werden (Gen 17), mitsamt dem buchstäblichen Gebotsgehorsam pharisäischer Provenienz, von dem Paulus vor Damaskus tief überzeugt gewesen ist, »untadelig gemäß der Gerechtigkeit im Gesetz« (Phil 3,6). Vielmehr muss der rechtfertigende Glaube, der zum Segen von Abrahams Nachkommen passt, von Gottes Verheißung her verstanden werden, die den Menschen, zuerst Abraham, bewegt, dorthin zu gehen, wo die Zukunft wohnt.
Das paulinische Paradox
Den Glauben Abrahams deutet Paulus im Horizont der Verheißungen Israels, die Jesus bejaht (2 Kor 1,20). Der Apostel bezieht Sara ein, Abrahams Frau. Beide haben sich sehnlichst ein Kind gewünscht, bislang vergeblich. Das Problem ist nicht nur persönlich, sondern auch heilsgeschichtlich: Wie soll sich Israels Sendung erfüllen, wenn es keinen Stammhalter gibt?
Bei der Antwort auf die Frage folgt Paulus genau dem Text der Genesis: Es wird keine natürliche, aber es wird eine göttliche Lösung geben, angesagt durch den Besuch von drei Männern bei den Eichen von Mamre: übers Jahr werde beiden ein Kind geboren werden (Gen 18). Sara lacht, weil sie weiß, dass es ihr lange schon nicht mehr »nach der Weise der Frauen« geht (Gen 18,11). Abraham ist still. Im Fortgang der Erzählung macht er sich nur Sorgen, dass in Sodom und Gomorrha auch die Gerechten mit den Ungerechten untergehen könnten. Von einer Reaktion auf die Verheißung steht nichts geschrieben.
Paulus folgt der pharisäischen Hermeneutik, dass die Leerstellen der Bibel mit Gottes Geist zu füllen sind. Deshalb deutet er: Abraham »glaubte Gott, der die Toten lebendig macht und das, was nicht ist, ruft, dass es sei« (Röm 4,17). Die Hoffnung auf die Auferstehung der Toten am Ende aller Tage vereint die Pharisäer im Glauben an Gott und unterscheidet sie von den Sadduzäern, die mit dem Jerusalemer Priesteradel verbunden sind (Apg 23,6–8). Die Auferstehung führt zum ewigen Leben. Nach Paulus, der die Auferweckung Jesu im Sinn hat, ist sie eine neue Schöpfung, die nicht erst am Ende aller Tage Wirklichkeit werden wird, sondern sich denen, die glauben, jetzt schon erschließt (2 Kor 5,17; Gal 6,15). In dieser Perspektive schaut er auf Abraham zurück: Sara und er erleben eine Auferstehung mitten im Leben. Das Kind, das ihnen Gott schenkt, beendet ihr altes Leben, das im Zeichen des natürliches Endes stand, und lässt ihr neues Leben beginnen, das im Zeichen des göttlichen Anfangs steht.
Paulus geht als schriftgelehrter Theologe noch weiter, indem er die creatio ex nihilo anspricht. Sie ist die philosophisch belastbare Theologie der Schöpfung, die sich vielleicht noch nicht im historisch-kritisch gelesenen Text der Genesis, wohl aber im griechisch aufgeschlossenen Zweiten Buch der Makkabäer findet. Eine jüdische Mutter sagt dort zu ihrem Kind, dem das Martyrium blüht: »Ich bitte dich, mein Kind: Schau den Himmel und die Erde an, sieh auf alles, was da ist, und erkenne: Gott hat es aus Nichts gemacht, und so ist das Geschlecht der Menschen geworden« (2 Makk 7,28). Deshalb gebe es Hoffnung über den Tod hinaus – und die Kraft, Widerstand gegen religiöse Unterdrückung zu leisten, koste es auch das Leben.
Bei Abraham und Sara war nichts mehr zu machen – aber aus Nichts hat Gott alles gemacht: das Kind, den Segen, die Zukunft. Denn Gott lässt nicht sterben, sondern leben. Er schenkt und erhält das Leben aller Menschen, er leitet und vollendet es – durch den Tod hindurch. Dieses Grundvertrauen der Bibel gewinnt für Paulus unendliche Dimensionen durch Jesus, der gestorben und von den Toten auferstanden ist. So hat er das Evangelium verkündet, im Brief auch den Römern (Röm 1,1–17). In dieser Perspektive schaut er auf Abraham. Er, der Hundertjährige, dessen Leib schon »erstorben« war, erlebt zusammen mit seiner Frau, deren »Mutterschoß« schon tot war (Röm 4,19), eine Auferstehung mitten im Leben, das vom Tod umfangen ist: Sein Kinderwunsch wird erfüllt, seine Hoffnung wird wahr, seine Sendung geht los.
Entscheidend ist der Glaube. Paulus bestimmt ihn dreifach: Er macht nicht schwach, sondern stark (Röm 4,19–20), er ist nicht Zweifel, sondern volle Überzeugung (Röm 4,20–21) – und er ist von der Hoffnung wider alle Hoffnung geprägt (Röm 4,18).
Erstens: »Er wurde nicht schwach im Glauben, als er seinen schon erstorbenen Leib anschaute, der hundert Jahre war, und den Tod des Mutterschoßes Saras, … sondern wurde gestärkt durch den Glauben, indem er Gott die Ehre gab« (Röm 4,19–20). Entscheidend ist die Perspektive. Schaute Abraham nur auf sich, müsste er schwach werden, weil er keine natürliche Kraft mehr besitzt; weil aber Abraham auf Gott schaut, wird er stark. Auch die jüdische Theologie der Antike, Philo von Alexandrien voran, hat in Isaak ein Geschenk Gottes gesehen. Paulus teilt diese Sicht – und bezieht den Menschen ein, auf den Gott schaut. Abrahams Glaube schaltet seine Menschlichkeit nicht aus, sondern ein. Gott gehört zu seinem Leben: Er hat es ihm geschenkt, er lässt es ihn weitergeben. Das ist Abrahams Identität. Im Glaube erkennt er sich selbst und wird dadurch fruchtbar. Seine Stärke ist Gott selbst. Ihm gibt er die »Ehre«, während Menschen, die der Sünde verfallen sind, diese Ehre Gott nehmen wollen, um sie ihren eigenen Idolen zu verleihen (Röm 1,21). Gottes »Ehre« ist die Strahlkraft seiner Liebe. Sie ist schöpferisch, sie schafft Leben, sie sagt Ja zu den Menschen. Wer glaubt, sagt Ja zu Gott, der Ja sagt zum Leben.
Zweitens: »An der Verheißung Gottes zweifelte er nicht im Unglauben, sondern … wurde davon erfüllt, dass, der verheißt, auch mächtig ist zu erfüllen« (Röm 4,20–21). Paulus leugnet nicht, dass der Glaube Zweifel kennt, ist er doch stets ein menschlicher Akt und nicht eine Überwältigung durch Gott. Aber Abraham lässt nicht den Zweifel an Gott über sein Leben herrschen, sondern ringt sich zum Glauben durch. Paulus formuliert im theologischen Passiv: Er »wurde erfüllt« heißt: Gott hat ihn an der Fülle seines Leben teilhaben lassen; er hat seine ganze Liebe in sein Herz ausgegossen »durch den Heiligen Geist« (Röm 5,5).
Drittens: Zweifel und Schwäche werden durch eine Hoffnung überwunden, die weiß, dass alles gegen sie spricht – außer Gott. So charakterisiert Paulus den Glauben Abrahams, bevor er Schwäche und Zweifel thematisiert: »Gegen jede Hoffnung glaubte er auf Hoffnung hin, dass er zum Vater vieler Völker werde, gemäß dem, was gesagt ist: ›So wird dein Same sein‹« (Röm 4,18). Wer glaubt, sagt »Nein« zur Herrschaft des Todes und »Ja« zu neuem Leben. Für die griechische Sprachwelt ist klar, wie oft die Hoffnung trügerisch ist: wenn sie nicht auf einer realistischen Beurteilung der Lage beruht und wenn sie sich auf die falschen Personen richtet, die sie enttäuschen werden. Im Judentum ist wie für Paulus klar: Nur Gott begründet wahre Hoffnung. An Abraham zeigt der Apostel, wie realistisch der Glaube ist. Abraham denkt sich nichts Schönes aus, er gibt sich keinerlei Illusionen hin, er flieht nicht aus der Realität. Er weiß: Alles spricht gegen die Hoffnung, an der aber sein Leben hängt – und das Saras und dessen, den Gott zum Segen für alle Völker machen will. Dennoch glaubt Abraham, voller Hoffnung. Dieser Glaube wider den Unglauben ist nicht Trotz. Das Dennoch des Glaubens hat einen Grund: Gott selbst. Er ist der Gott, der spricht. Abraham hat sein Wort gehört: »So wird dein Same sein« (Gen 15,5), zahlreich und voller Segen in dem einen Nachkommen, der ihn unter den Völkern verbreitet. Paulus liest die Heilige Schrift mit den Augen seiner Zeit als jüdischer Theologe: Gotteswort ist Gotteswort. Die Bibel erzählt, dass Gott direkt Abraham angesprochen habe, mit dieser Verheißung seines Lebens. Mose, für Paulus der Autor, konstatiert: »Abraham glaubte Gott – und das wurde ihm zur Gerechtigkeit angerechnet« (Gen 15,6 – Röm 4,3.9; Gal 3,6).
Ohne dass alles gegen sie spräche, wäre die Hoffnung nicht Hoffnung. Ohne dass Gott für sie spräche, noch viel weniger. Hoffnung sagt »Dennoch« zum Status quo, der keine Veränderung zulassen will und die herrschende Ungerechtigkeit triumphieren lässt. Hoffnung kann aber auch »Deshalb« sagen: weil sie auf Gott verweist und auf sein Handeln in der Geschichte, so verborgen es auch sein mag und so strittig es bleibt. Der Glaube macht Hoffnung, weil er auf Gott vertraut, die Hoffnung erfüllt den Glauben, weil sie Gott erwartet, der seine Verheißung wahrmacht. Nach der berühmten Formel, die Paulus geprägt hat, sind der Glaube und die Hoffnung mit der Liebe verbunden (1 Thess 1,3; 5,8), die nach dem Hohenlied die größte ist (1 Kor 13,13). Der Glaube steht immer am Anfang, weil er vom Hören kommt und dem Evangelium recht gibt (Röm 10,17). Die Liebe steht am Schluss, wenn es um den Dienst am Nächsten (1 Kor 12–14), die Hoffnung, wenn es um die Hoffnung für die Toten geht (1 Thess). Einmal ist die Hoffnung die Brücke, die aus der jenseitigen Zukunft in die diesseitige Gegenwart führt, um den Glauben in der Liebe wirksam werden zu lassen (Gal 5,6), einmal ist sie die Spitze, die Gottes- und Nächstenliebe vereint, um nicht nur für die eigene Person das Beste zu erwarten, sondern für die ganze Welt.
Das paulinische Parallelogramm
Paulus sieht Abraham als Urbild des Glaubens. Er steht nicht für sich allein, sondern hält den Raum für alle frei, die im Glauben hoffen und in der Hoffnung nicht zuschanden werden (Röm 5,5). »Er ist unser aller Vater« (Röm 4,16) – mit diesem Bekenntnis leitet Paulus seine Reflexion über die Paradoxie der Hoffnung ein. »Nicht allein um seinetwillen ist geschrieben, dass er ihm angerechnet wurde, sondern auch um unseretwillen, denen er angerechnet werden wird«, so endet das Abraham-Kapitel (Röm 4,23–24) über den Glauben, der rechtfertigt.
Beide Überzeugungen des Apostels sind in der Bibel selbst begründet; beide sind im pharisäischen Judentum begründet, auch wenn das »Uns« und das »Um … willen« durch den Christusglauben neu bestimmt werden. Für die pharisäische Hermeneutik ist klar, dass die Bibel in Israel für Juden geschrieben ist und dass Abraham, den auch sie als Hoffnungsträger für viele Völker sehen, Stammvater der Juden ist. Paulus leugnet weder die jüdischen Wurzeln des Christusevangeliums noch die besondere Erwählung und Sendung Israels. Aber er sieht in der Abrahamstradition der Genesis die Gegenwart aller Welt eingeschlossen, wie er sie im Präskript des Römerbriefes gekennzeichnet hat: »Griechen und Barbaren, Weisen und Ungebildeten« – allen Völkern erschließt sich die Verheißung Gottes: durch den Gauben (Röm 1,13–14).
Der Glaube hat die Kraft, jede Grenze zwischen Menschen durchlässig zu machen, die durch Geschlecht, Status und Herkunft errichtet werden (Gal 3,26–28; 1 Kor 12,13). Er entfaltet diese Kraft, weil er sich auf Gott bezieht (Röm 3,30). Er ist der eine Gott für alle. Deshalb befreit er: nicht nur von der Unheilsmacht des Bösen und der Angst vor dem Tod, sondern auch von sozialen, religiösen und natürlichen Barrieren, die gemäß dem antiken Weltbild Menschen in die Schranken weisen.
Der Glaube kennt allerdings auch die Gefahr, die Wahrheit, die sich ihm offenbart hat, absolut zu setzen und andere auszugrenzen: alle, die ihn nicht teilen oder signifikant anders verstehen. Diese Gefahr wird tödlich, wenn die Heilsverheißung des Glaubens nicht positiv, sondern exklusiv verstanden wird. Dann ist nicht nur dem Antijudaismus Tür und Tor geöffnet; es bildet sich auch ein elitäres Bewusstsein, das im Widerspruch zum universalen Heilswillen Gottes steht. Die traurige Gewissheit eines Augustinus, dass die große Mehrzahl der Menschen massa damnata sei, weil sie den wahren Glauben vermissen lasse, braucht nicht als moralischer Missgriff beurteilt zu werden, um die Problematik zu erkennen, dass sie im eklatanten Widerspruch zur heilstiftenden Proexistenz Jesu steht (Röm 5,12–21).
Die Hoffnung ist unmittelbar berührt. Wer nicht glaubt, hätte dann keine Zukunft, sondern wäre ewiglich verloren. Aber die Verheißung, die mit Abraham verbunden ist und von Paulus aufgeschlossen wird, ist größer als alle menschliche Theorie, auch als aller Glaube und Unglaube. Wer glaubt, weiß jetzt schon, dass es Grund zur Hoffnung gibt – nicht nur für diejenigen, die denselben Glauben teilen. Im Römerbrief macht Paulus diese Weite der Liebe Gottes zuerst an der ganzen Schöpfung klar, die »ächzt und stöhnt«, aber die in den Glaubenden, denen der Geist zu Hilfe kommt, Fürsprecher findet (Röm 8,14– 30), danach am Beispiel der großen Mehrzahl der Juden, die nicht an Jesus glauben: weil »ganz Israel gerettet« werden wird, ist es doch so, dass Gott »seine Gnade nicht reut« (Röm 11,26).
Paulus konstruiert ein theologisches Viereck, das von Gott durch Jesus Christus im Heiligen Geist aufgebaut wird. Die Eckpunkte sind Abraham und Israel auf der einen Seite, Paulus und die Römer auf der anderen Seite, die stellvertretend für alle stehen, die an Gott durch Jesus im Heiligen Geist glauben und darin all denjenigen aus den Völkern den Platz freihalten, die nicht zum Bekenntnis gefunden haben. So wie Abraham für Israel der Stammvater ist, der sie im Zeichen der Verheißung mit allen Völkern verbindet, die Gott segnen wird, so ist Paulus für die Römer ein Apostel, der sie mit der ganzen Welt verbindet, um sie zu einem Aktivposten der Glaubensmission zu machen. Die Linien verlaufen parallel, weil Gott in seiner Verheißung treu ist; sie sind verschoben, weil Zeit ins Land gegangen ist, die Gott durch Jesus genutzt und geschenkt hat (Röm 13,11–14). Die Verbindungen schaffen das Evangelium und der Glaube: das Evangelium, weil Gott es »vorangekündigt hat durch seine Propheten in heiligen Schriften« (Röm 1,2), der Glaube, weil Abraham ihn vorgelebt hat, der sein Leben in Gott festmacht.
Um der Hoffnungslosen willen
Micha Brumlik erinnert im »Cicero«1 an Walter Benjamin, der 1924/25 einen Essay über Goethes Wahlverwandtschaften mit einer Variation des paulinischen Hoffnungsmotivs beschließt: »Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben.«2 Walter Benjamin schreibt mitten in der Krise der Weimarer Republik; er schreibt, bevor er aus Nazi-Deutschland vertrieben wird und seinem Leben auf der Flucht ein Ende macht. Er schreibt als jüdischer Citoyen, der sich als Kommunisten bezeichnet hat, ohne je Parteimitglied geworden zu sein, als agnostischer Apokalyptiker, der Geschichtsphilosophie getrieben hat, und als säkularer Mystiker, der wider alle Hoffnung auf den Messias gehofft hat.
Was Benjamin an den Wahlverwandtschaften, Goethes Schüsselroman, interessiert, ist die unmögliche Hoffnung auf Liebe über den Tod hinaus und jenseits des Sterbens. »Die Hoffnung auf Erlösung, die wir für alle Toten hegen, … ist das einzige Recht des Unsterblichkeitglaubens, der sich nie am eigenen Dasein entzünden darf.« Benjamin meint, das Mythische dieser Sehnsucht dürfe nicht veredelt werden, deshalb sei das »nazarenische Wesen« fehl am Platz. Was aber, wenn nicht das Evangelium den Mythos, sondern der Mythos das Evangelium veredeln will? Jedenfalls macht das paulinische Schlusswort der Hoffnung für die Hoffnungslosen nur dann Sinn, wenn die Hoffnung realistisch bleibt, also mit der Wirklichkeit des Todes rechnet und nicht einem fallenden Stern, wie bei Goethe, sondern dem auf die Erde kommenden Gottessohn, wie beim Apostel, die radikale Erneuerung zutraut.
Benjamin führt Paulus ins Herz der Moderne – oder umgekehrt? Die Shoa, die Mutter aller Neuzeit-Katastrophen, bestimmt die Perspektive, wenn Walter Benjamin heute gelesen wird – und mit ihm Paulus. Die Gründe, alle Hoffnung fahren zu lassen, haben sich ins Ungeheuerliche vermehrt. Ist dennoch Hoffnung möglich? Nicht nur in einem Jenseits des finalen Untergangs, sondern auch im Diesseits einer verwundeten Welt?
Wenn, dann »nur um der Hoffnungslosen willen«. Sie sollen nicht dadurch widerlegt werden, dass es doch besser kommt, als befürchtet, oder nicht ganz so schlimm war, wie beklagt. Sie sollen in ihrer Hoffnungslosigkeit, die allen Grund hat, nicht allein sein. Dass Gott ihnen nahe ist, auch wenn sie ihn nicht erkennen, ist die Gewissheit des Glaubens. Wer sie nicht teilt, ist aber für Empathie dankbar, die nicht bei schönen Worten bleibt und frommen Gebeten, sondern solidarische Taten umschließt, die geeignet sind, die Misere zu beenden. Dass die menschlichen Kräfte, nachhaltig Abhilfe zu schaffen, schwach sind, ist eine Wahrheit, die vor Überforderung schützt und Bevormundung verhindert, aber keine Ausrede für unterlassene Hilfeleistung sein kann. Caritatives Engagement ist ebenso ein Grund, Hoffnung zu schöpfen, wie politisches Engagement für Demokratie und Menschenrechte.
Paulus setzt auf den Glauben, der immer angefochten bleibt, aber weiß, weshalb es dennoch Hoffnung gibt: weil es den »Gott der Hoffnung« gibt (Röm 15,13). Er setzt auf die Liebe, die gegen das Nichts protestiert, indem sie sich Gottes Liebe öffnet (1 Kor 13). Er setzt auf die Hoffnung wider alle Hoffnung, weil dann, wenn Gott so ist, wie Abraham glaubt, gilt: Das Beste kommt noch.3
Anmerkungen: 1 Der Anti-Pessimist. Walter Benjamin. Ein Kaleidoskop, in: https://www.cicero.de/kultur/deranti-pessimist/43528. 2 Walter Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I:Abhandlungen, hg. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1991. 3 Weiterführende Literatur zum Thema: Matthias Köckert, Abraham: Ahnvater – Vorbild – Kultstifter (Biblische Gestalten 31), Leipzig 2017; Udo Schnelle, Paulus – Leben und Denken, Berlin 2014; Maria Neubrand, Abraham – Vater von Juden und Nicht-Juden. Eine exegetische Studie zu Röm 4 (Forschung zur Bibel 85), Würzburg 1997; Joseph Sievers – Amy-Jill Levine – Jens Schröter (Hg.), Die Pharisäer – Geschichte und Deutung, Freiburg im Breisgau 2024.
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Thomas Söding |
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