archivierte Ausgabe 2/2014 |
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Die Schriftleitung |
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Leseprobe 2 |
Vierter Fastensonntag – 30. März 2014 |
I. Österliche Bußzeit – auch für Mutter Kirche (Joh 9,1–41) |
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Zielsatz: Ich möchte der Frage nachgehen, wie es unsere heutige Kirche mit ihren vielen Gesetzen, Vorschriften und Bestimmungen hält. Dient dies alles tatsächlich der Ausbreitung der guten Reich-Gottes-Botschaft? Oder müsste nicht manches einer Revision unterzogen werden?
Bürokratie: Form statt Inhalt
Wenn Sie auf einer Behörde etwas erreichen wollen, sollten Sie unbedingt zwei Bedingungen erfüllen. Erstens: Ohne das amtliche Formular geht gar nichts. Und zweitens: Sie müssen den richtigen Sachbearbeiter ausf indig machen. Wohlgemerkt, beides muss zusammenkommen: Der korrekte Vordruck und der passende Ansprechpartner. Ist eine Voraussetzung nicht erfüllt, hören Sie mit Sicherheit: »Tut mir leid, da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen.« Fällt dieser Satz, verlassen wir in der Regel frustriert das Amt, ballen die Faust in der Tasche und ärgern uns über die Behördenwillkür. – Es heißt, die EU hätte sogar eigens einen »Entbürokratisierungsbeauftragten« bestellt – das Wort klingt so kompliziert, wie die Aufgabe dieses Beauftragen wahrscheinlich auch ist.
Doch halt: Keine Behördenschelte! So einfach wollen wir es uns nicht machen. Denn normierte Formen und geregelte Zuständigkeiten verschaffen auch Erleichterung und geben Sicherheit; sie sollen entlasten und die Effektivität erhöhen. Wenn alles nur schlecht wäre, hätte man es mit Sicherheit längst abgeschafft. Bürokratie mag anstrengend sein, aber man weiß, woran man ist. Zudem gibt es ja auch eine Reihe erkennbarer Vorteile: Der Verkehr auf unseren Straßen ist einigermaßen sicher, weil nicht jeder mit jedem beliebigen Fahrzeug losbrausen darf; unsere Nahrungsmittel sind zumeist unbedenklich, weil alles zuvor geprüft und untersucht wird; und auch vor willkürlichen Strafmandaten sind wir weitgehend geschützt, weil nur dann ein Bußgeld fällig wird, wenn ein passender Paragraph existiert.
Sicher, das eine oder andere wäre durchaus verbesserungsbedürftig, aber im Großen und Ganzen fahren wir mit unserem System eigentlich nicht schlecht.
Das Leben: Form statt Inhalt?
Höchst problematisch wird es allerdings, wenn Regelungseifer und Behördenmentalität tief in unser ganz konkretes Leben eingreifen und wir feststellen müssen, dass vorgefertigte Formblätter und allgemeine Schemata einfach nicht passen. Wie weit Bürokratie und Lebenswirklichkeit auseinanderliegen können, erleben wir spätestens dann, wenn es um die Eingruppierung in eine Pf legestufe geht. Denn was der pf legebedürftige Großvater wirklich braucht und wo ihm Unterstützung fehlt, lässt sich mit den Formularen des medizinischen Dienstes meist nur unzureichend erfassen. Wenn alle Kategorien bereits vorgegeben sind und sich die Antworten nur in einem bestimmten Rahmen bewegen können, bleibt der einzelne Mensch außen vor. Das Leben fällt eben manchmal aus dem Rahmen, und jede familiäre Situation ist anders. Gesetze und Formulare sind jedoch allgemein und abstrakt – und deshalb können sie das individuelle Leben nicht abbilden. Wenn dann die passende Zeile im Vordruck fehlt, hat man eben Pech gehabt. – »Tut mir leid, da kann ich ihnen nicht weiterhelfen.« Wie es im Alltag mit Opa weitergeht, kommt im Vordruck nicht vor.
Biblisch-bürokratische Heilssorge
Mit dieser Art »Behördenmentalität« bekommen es auch Jesus und der Blindgeborene im Evangelium zu tun. Da heilt Jesus einen bemitleidenswerten jungen Mann, dessen Augen niemals das Tageslicht gesehen haben. Ein schreckliches Schicksal geht mit dieser Heilung zu Ende; Leben ist wieder möglich. Das Ganze geschieht zwar eher unkonventionell, ist aber höchst effektiv. Eigentlich könnten alle froh sein.
Doch weit gefehlt: Die damalige »Amtskirche« – wenn Sie so wollen – tritt auf den Plan, startet eine Untersuchung und überprüft gewissenhaft, ob denn alles formal korrekt zugegangen sei. Und was zu erwarten war, geschieht tatsächlich: Jesus und seine Heilungstat fallen durch; sie bestehen die Prüfung nicht. Es gab schlicht zu viele Formmängel: An einem Sabbat zu heilen, geht schon mal gar nicht; die richtige Lizenz fehlte dem Heiler ebenfalls; und über seine Herkunft lässt sich nur spekulieren – höchst verdächtig der Mann – vermutlich ein Sünder.
Kurzum: Die pharisäische Prüfungskommission kommt zu dem Schluss, dass gesetzeskonforme Heilungen anders auszusehen haben. »So jedenfalls geht das nicht. Da könnte ja jeder kommen. Und wenn es jeder so machte, geriete das ganze bewährte System aus den Fugen. Und das wollen wir nicht. Wer weiß denn, wohin das führt?«
So gerät der Geheilte zwischen die Fronten. An wen soll er sich nun halten? Soll er sich auf die Seite der Tradition, der Autorität und sicher auch der Mehrheit stellen? Oder soll er sich an den halten, der ihm tatsächlich geholfen und ihn von seinem Leiden befreit hat? Die Antwort des nun Sehenden fällt eindeutig aus: »Ich glaube, Herr! – Und er warf sich vor ihm nieder.«
Kirchlich-bürokratische Heilssorge
Nun könnte man meinen, dass wir heute deutlich weiter wären und diese Art von »Heilsbürokratie« längst hinter uns gelassen hätten. Schließlich heißt es doch in fast allen kirchlich-offiziellen Verlautbarungen, das »der Mensch und die wirksame Verkündigung der Frohen Botschaft im Mittelpunkt« zu stehen hätten – und eben nicht die Form und das Formular. Doch so ganz stimmt das wohl nicht. Regelungseifer und Formalismus gibt es auch in unserer gegenwärtigen Kirche zuhauf. Und damit nichts aus dem Ruder läuft, sind alle Zuständigkeiten und Aufgaben exakt festgelegt:
Wenn beispielsweise eine Pastoralreferentin, die vorzüglich predigen kann, das Evangelium auslegen möchte, so darf sie das zwar tun – allerdings nicht am liturgischen Ort der Predigt, sondern am Beginn der Messe, also zu einem Zeitpunkt, an dem das Evangelium noch gar nicht verkündet worden ist. Ein Krankenhausseelsorger, der einen Patienten über Wochen und Monate aufs Intensivste begleitet hat, darf diesem nicht das Sakrament der Krankensalbung spenden – dies ist einem geweihten Priester vorbehalten, auch wenn der keinerlei Beziehung zum Patienten hat.
Hochqualifizierte Erzieherinnen können in der Regel nicht eingestellt werden, wenn sie nicht der eigenen Konfession angehören – selbst dann nicht, wenn sie sich in ihrer Gemeinde vorbildlich engagieren und überzeugte Christen sind. Sie vermuten richtig – die Reihe ließe sich fortsetzen. Über die Zulassung zum Priester- und Diakonenamt, über den Umgang mit den »offensichtlichen« Sündern in den Gemeinden und über vieles andere haben wir ja noch gar nicht gesprochen.
Gute Gründe für Anpassungen
Natürlich gibt es für jede Bestimmung und für jede Regelung gute Gründe. So haben weltkirchliche Aspekte und lange Traditionen unbestreitbar ein erhebliches Gewicht. Zweifellos muss die Kirche ihrer Vergangenheit verpf lichtet bleiben, denn sie verlöre nicht nur ihre Wurzeln, sondern vielmehr auch ihre Mitte, wenn sie meinte, sich von heute auf morgen neu zu erfinden. Und es darf auch nicht verschwiegen werden, dass sich Vieles im Laufe der Jahrhunderte durchaus bewährt hat.
So sind die Gesetzeslehrer aus dem soeben gehörten Evangelium ja keineswegs nur Sturköpfe oder Ignoranten. Sie verstehen sich als Hüter einer heiligen Tradition, als diejenigen, die das Kostbarste des jüdischen Volkes – nämlich das göttliche Gesetz –bewahren wollen. Für die Religionsführer besteht nicht deswegen Handlungsbedarf, weil sie durch die Konkurrenz Jesu Angst um ihren Job hätten, sondern weil es um die Identität Israels als auserwähltes Gottesvolk geht. Dass sie allerdings in ihrem heiligen Eifer blind geworden sind für das unplanmäßige Wirken Gottes und seines unscheinbaren Gesandten, steht auf einem anderen Blatt. Es ist schon eine Tragik: Da wollen sie das göttliche Licht hüten, und doch tappen sie im Dunklen.
Sanfte Anpassungen
Versteht man das Evangelium auch als Warnung an uns Heutige, muss die Frage erlaubt sein, ob sich die Kirche mit ihrem Festhalten an starren Regelungen und Vorschriften letztlich einen Gefallen tut – und viel entscheidender – ob sie mit ihren Gesetzlichkeiten noch den Kern der guten Reich-Gottes-Botschaft trifft. Es ist eine Binsenweisheit, aber alles kirchliche Recht, das dem Evangelium im Wege steht, hat keine Berechtigung.
Es mag uns zuversichtlich stimmen, dass es der Kirche immer wieder gelungen ist, sich im Laufe ihrer langen Geschichte erfolgreich zu häuten; offenkundig sind ihre gegenwärtige Gestalt, ihre Liturgie und ihre Strukturen längst nicht mehr die des 4., 14. oder 18. Jahrhunderts.
Doch Gewohnheiten und Gesetze anzupassen, die über Generationen hinweg wie in Stein gemeißelt waren, verlangt ein hohes Maß an Mut, Sensibilität und Wissen. Zwischen Konservativismus und Progressismus ist es nur ein schmaler Grat. Keinesfalls sollte man ein solches »Aggiornamento« den Hemdsärmeligen und Leichtfertigen überlassen. Doch trotz aller Bedenken – wenn unsere Kirche nicht den Anschluss an die Lebenswirklichkeit der Menschen verpassen will, ist es an der Zeit, dass sie sich ändert.
Ganz dicht am Herrn
Vielleicht hilft uns gerade die Fastenzeit, den Ursprung und den Sendungsauftrag der Kirche klarer als sonst zu sehen. Denn Fastenzeit bedeutet ja nicht nur, das persönliche Leben einer Revision zu unterziehen, sondern auch den Weg unserer institutionellen Kirche zu überprüfen.
Ein »Gewissenspiegel« für unsere Kirche könnte etwa so lauten: Wie nahe ist sie ihrem Herrn, und was würde dieser von ihr halten, wenn er ihr heute gegenüberträte? Wie nahe ist sie aber auch den Menschen, und haben diese den Eindruck, dass ihr konkretes Leben dort vorkommt? Atmet und lebt sie tatsächlich den Geist des Evangeliums? Ist sie die attraktive »Stadt auf dem Berg«, die den Menschen der Gegenwart Orientierung und Heimat geben kann? Finden in ihr die Verlierer und Verachteten, die Abhängten und Abseitigen Aufnahme, Anerkennung und Wohlwollen? Ist sie ein Hort der Geschwisterlichkeit, der Wertschätzung und der Freude? Dürfen sich in ihr auch die hervorwagen, die sonst nicht vorkommen dürfen? Ist sie ein Vorreiter auf dem Feld der Menschlichkeit, der Barmherzigkeit und der Vergebung?
Ecclesia semper reformanda est
Ja, eine Kirche, die dicht bei den Menschen sein will, muss dicht bei ihrem Herrn sein. Eine Kirche, die für sich in Anspruch nehmen will, authentische Nachfolgegemeinschaft Jesu Christi zu sein, kann und darf sich nicht in Gesetzlichkeiten und Vorschriften ergehen. Stattdessen hätte sie auf die »Zeichen der Zeit« zu achten und ihre jeweilige Gestalt den seelischen und leiblichen Bedürfnissen der Menschen anzupassen. Gut möglich, dass die Kirche erst dann ihre wahre Identität findet, wenn sie aufhört, sich um ihre Identität zu sorgen, sondern ganz bei jenen Menschen ist, die sich von ihr Heil, Hoffnung und Trost erwarten. Niemals darf es vorkommen, dass jemand, der sich in seiner Not an die Kirche wendet, hören muss »Tut mir leid, da kann ich ihnen nicht weiterhelfen.«
Der Philosoph und Theologe Heinrich Spaemann hat einmal davon gesprochen, dass man alle »Gesetze auf Liebe hin entgrenzen« müsse. Jesus hat gewagt, dies zu tun. Hätte er die Vorschriften des Gesetzes eingehalten und sich nicht von der Not des Blinden leiten lassen, wäre dieser wahrscheinlich heute noch blind und säße in seinem Elend.
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Stefan Peitzmann |
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