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Leseprobe 2
Fronleichnam – 30. Mai 2013
II. Jesus zu den Leuten bringen (Lk 9,11b–17)

Zielsatz: Ich möchte eine freundliche und offene Grundhaltung bei der Fronleichnamsprozession fördern.


Ein seltsames Schauspiel

Fronleichnam in meiner früheren Gemeinde. Sie liegt direkt hinter dem Bahnhof, am Rande der Innenstadt. Am Donnerstagvormittag zieht die Prozession auf der Hauptverkehrsstraße des Stadtteils entlang. Aus den Fenstern schauen Neugierige. Schüler, die gerade Pause haben, gucken uns teils irritiert, teils spöttisch zu und machen ihre Bemerkungen. Frauen mit Einkaufstaschen wollen auf die andere Straßenseite und schlängeln sich durch die Prozession hindurch. Kleine Kinder winken. Hinten und vorn hat die Polizei die Straße abgesperrt. Autos hupen. Wir singen.

Auch wir selber bilden keine perfekt geordnete Prozession. Die Baldachinträger schreiten zwar würdig. Und auch die Kommunionkinder gehen in Reih und Glied. Die Katechetinnen achten darauf und greifen schon einmal ein, wenn es etwas durcheinander geht. Die Kapelle spielt kräftig und übertönt manche Unruhe. Aber weiter vorne und weiter hinten: Da schieben Mütter ihre Kinderwägen und tauschen Neuigkeiten aus. Nicht alle singen mit. Jugendliche machen ein mürrisches Gesicht, es ist ihnen peinlich, dass ihre Freunde am Straßenrand sie mitmarschieren sehen. Jemand springt schnell zum Kiosk und holt sich die Zeitung. Einem anderen wird es zu lang, er wohnt in der Nähe und biegt nach Hause ab. Ein dritter sieht auf dem Bürgersteig einen Bekannten und eilt hin, um ihm die Hand zu schütteln. Manche hinten bummeln, und wir müssen ganz langsam gehen, damit sie aufholen können. Und in der Mitte der Prozession trage ich die Monstranz mit dem Allerheiligsten und versuche, Ruhe und Würde auszustrahlen.

Ist das ein würdiges Bild? Oder ist es – wenigstens unter solchen Umständen – ein unwürdiges Schauspiel, das wir lieber lassen sollten? Wäre es nicht besser, in der Kirche und im Pfarrgarten zu bleiben?

Jesus und die Leute

Das Evangelium erzählt uns heute vom Wunder der Brotvermehrung. Fünftausend Leute sind zusammengekommen. Jesus wollte sich eigentlich zurückziehen. Aber die Leute finden heraus, wo er ist, und strömen in Massen dorthin. Und dann heißt es, »redete Jesus zum Volk vom Reich Gottes und heilte alle, die seine Hilfe brauchten«. Leider lässt der Text des Evangeliums den ganz kleinen Satz weg, der direkt davor steht. Er heißt: Jesus »empfing sie freundlich«.

So ist Jesus. Er ist mitten unter den Leuten. Er empfängt sie freundlich. Er hört sich ihre Sorgen an. Sie sind wichtig. Er tut, was er kann. Er spricht »vom Reich Gottes und heilt alle, die seine Hilfe brauchen«.

Jesus mag die Leute. Er weicht ihnen nicht aus. Davon erzählt das Evangelium immer wieder. Er holt Zachäus vom Baum. Er geht zur Hochzeit in Kana. Er lässt sich von Pharisäern zum Essen einladen. Er spricht mit der Samariterin am Jakobsbrunnen. Oft wird es dann ernster. Jesus mahnt und ruft zur Umkehr. Der Ehebrecherin sagt er: Geh hin und sündige nicht mehr. Dem reichen Jüngling, der an seinem Besitz klebt, sieht er traurig nach. Er fordert jeden auf, sein Kreuz auf sich zu nehmen. Aber fast immer beginnt es mit einer freundlichen Begegnung. Dann kommt etwas in Bewegung. In der Nähe Jesu kann sich etwas verändern.

Auch das Wunder von der Brotvermehrung erzählt davon. Jesus empfängt die Leute freundlich. Und er schickt sie nicht hungrig weg. Wie genau das Wunder geschieht, erzählt das Evangelium nicht. Aber es erzählt, was für Jesus wichtig ist: Dass alle zu essen bekommen. Wo Jesus ist, wird man satt.

Eine würdige Fronleichnamsprozession

Was tun wir an Fronleichnam? Eigentlich tun wir nichts anderes, als genau diesen Jesus zu den Leuten zu tragen. Das ist ja die Aufgabe der Kirche überhaupt: Jesus zu den Leuten zu bringen.

Nun bin ich kein Illusionär. Ich weiß, dass für viele Außenstehende die Fronleichnamsprozession ein seltsames Schaupiel ist und bleibt. Ich weiß, dass viele nicht wissen, was da in dem goldenen Gefäß ist, das der Priester mit sich trägt. Bekehrungen während der Prozession habe ich noch nicht erlebt. Und ich weiß auch, dass die festliche Prozession etwas anderes ist als die persönliche und menschliche Begegnung mit den Leuten.

Da könnte man sagen: Jesus zu den Leuten bringen, das tun wir ja auf vielfache Weise. Wir tun es in unseren Caritaseinrichtungen, wir tun es im Kindergarten, wir tun es in der Seelsorge, wir tun es, wenn wir Trauernde trösten, wenn wir Kranke besuchen. Wir tun, es gerade weil wir wissen, dass das unsere Aufgabe als Christen ist: Jesus zu den Leuten bringen. Aber eine Fronleichnamsprozession ist doch etwas anderes!

Und doch: Sind wir nicht manchmal bei der Prozession statt freundlich gestimmt ärgerlich über die Unordnung und Unruhe? Wir gehen feierlich unseren Prozessionsweg und in uns grummelt es, weil es um uns herum so zugeht, wie ich es anfangs beschrieben habe. Die Leute benehmen sich nicht – ja manche benehmen sich wirklich nicht. Aber ist das Grund genug, sich über sie zu ärgern? Kann es nicht auch bei der Fronleichnamsprozession unsere Grundhaltung sein, Jesus zu den Leuten bringen, wer immer sie auch sind, was immer sie auch gerade tun, wie immer sie sich benehmen?

Die große Herausforderung ist es, die Prozession so zu gestalten und so an ihr teilzunehmen, dass nach außen hin etwas spürbar wird von unserer Grundhaltung: Wir wollen euch Jesus zeigen, den Jesus, der die Leute freundlich empfing.

Wie geht das? Danach müssen wir jedes Jahr neu suchen. Aber auch die Jünger haben gefragt: Fünf Brote und zwei Fische für fünftausend Leute – wie geht das? Jesu Antwort: Gebt, was ihr habt, alles andere vertraut mir an. Also an Fronleichnam: Tun wir, was wir können, und vertrauen wir alles andere Jesus an.

Natürlich bin auch ich ein Freund von geordneter Liturgie, und ich bin nicht dafür, dass jeder sich bei der Fronleichnamsprozession und um sie herum so benimmt, wie er will. Aber würdig wird unsere Fronleichnamsprozession am Ende dann doch nicht durch eine vollkommene Choreographie, sondern durch die Grundhaltung des Wohlwollens, mit der wir durch die Straßen ziehen. Wie immer die Leute sich dabei benehmen – Jesus hält das aus.

Welcher Reichtum!

Ich möchte schließen mit ein paar Sätzen des früheren Trappistenmönches Bernardin Schellenberger. Er beschreibt darin die Aufgabe der Kirche in der Geschichte der Menschheit. Als ich seine Sätze das erste Mal gelesen habe, musste ich gleich an die Fronleichnamsprozession denken. Sie werden gleich verstehen, warum: »Es gibt die sichtbare Prozession der Kirche durch die Wüste und das Dickicht der Geschichte. An ihr kann man die Marschrichtung ablesen, und das ist unentbehrlich. Dahinter und daneben und voraus, und vielleicht ein ganzes Stück abseits davon, aber doch in die gleiche Richtung pilgern, wandern, eilen, humpeln, krabbeln sehr viele andere, gelegentlich abenteuerliche und faszinierende, ein bisschen rauhe Gestalten: Welcher Reichtum!«

Werner Schreer

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