archivierte Ausgabe 4/2017 |
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Die Schriftleitung |
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Leseprobe 2 |
Das Thema: Evangelisch predigen |
Zentrale Themen der Reformation – für heute übersetzt |
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Fragen des Lebens – damals und heute
In diesem Jahr 2017 gedenken wir in ökumenischer Verbundenheit der Gabe unserer gemeinsamen Existenz im Glauben an Jesus Christus. Das vielfältige Geschehen der Reformation im 16. Jahrhundert führt uns heran zu den Fragen des Lebens, das wir als getaufte Menschen bewusst gestalten. Miteinander buchstabieren wir die großen Worte des christlichen Glaubens neu – dabei gelehrt und orientiert durch die Weisungen der biblischen Schriften, bestärkt durch die Zeugnisse der Traditionsgeschichte, immerzu auf der Suche nach einem Verstehen der Verheißungen angesichts der Nöte der Gegenwart. Grundlegend stellt sich die Frage, ob die Themen, auf die sich im 16. Jahrhundert das theologische Denken konzentriert hat, auch heute noch von Bedeutung sind. In der Reformationszeit waren Menschen mit ihren Möglichkeiten und Grenzen darum bemüht, der Wahrheit des Evangeliums jenen Raum zu geben, der ihm als Kunde von Gottes gnädigem Erbarmen entspricht. Unruhig waren diese Zeiten damals, geprägt von Ängsten vor dem Tod und dem Gericht Gottes. Die Pest wütete in Europa und riss geliebte Menschen in großer Zahl mitten aus dem Leben. Die Furcht, auch selbst bald zu den Toten zu gehören, war groß. In den Ortschaften waren viele Menschen mit der Krankenpf lege befasst – auch in Wittenberg im Haus von Katharina und Martin Luther. Soziale Unruhen erschütterten nicht nur die Bauernschaft. Fürsten erhoben Ansprüche dem Kaiser gegenüber. Neue Gedanken kamen auf – die Freiheit des Gewissens, die Achtung vor jedem menschlichen Leben, die Bereitschaft, mit den Mitteln der Vernunft argumentativ zu streiten.
Viele Gedanken richteten sich in einer späteren Phase der Reformation auf die kontroverse Betrachtung der institutionellen Gestalt der Kirche, besonders der Autorität in ihr, auf die kirchlichen Ämter und die Sakramente. Die reformatorische Bewegung begann jedoch anders: Am Anfang steht ein Mönch mit seiner Suche nach einem Gott, vor dem der Mensch angesichts seiner Sünde im Zorngericht bestehen kann. Das Evangelium von der Barmherzigkeit Gottes, seiner Güte, seinem Wohlwollen für die Sünderinnen und Sünder wirkte in dieser Zeit befreiend, erlösend: Niemals wird es dem Menschen gelingen, mit Verweisen auf seine Verdienste einen Anspruch auf Gottes Gnade zu erwirken. Gott allein ist die Hoffnung auf das Leben – ewiges Leben – des sündigen Menschen.
In der Ökumene ist es wichtig geworden, im Sinne des Zweiten Vatikanischen Konzils eine Rangordnung, eine »Hierarchie« unter den Themen des Glaubens vorzunehmen (Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, Nr. 11.): Von oberster Bedeutung sind jene Themen, die dem Bekenntnis zur Erlösung der göttlichen Schöpfung in Christus Jesus nahe sind. Der Lutherische Weltbund und der Päpstliche Rat für die Förderung der Einheit der Christen haben sich in der »Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre« am 31. Oktober 1999 in Augsburg auf folgende Formulierung verständigt: »Gemeinsam sind wir der Überzeugung, dass die Botschaft von der Rechtfertigung uns in besonderer Weise auf die Mitte des neutestamentlichen Zeugnisses von Gottes Heilshandeln in Christus verweist: Sie sagt uns, dass wir Sünder unser neues Leben allein der vergebenden und neuschaffenden Barmherzigkeit Gottes verdanken, die wir uns nur schenken lassen und im Glauben empfangen, aber nie – in welcher Form auch immer – verdienen können. […] Darum ist die Lehre von der Rechtfertigung, die diese Botschaft aufnimmt und entfaltet, nicht nur ein Teilstück der christlichen Glaubenslehre. Sie steht in einem wesenhaften Bezug zu allen Glaubenswahrheiten, die miteinander in einem inneren Zusammenhang zu sehen sind. Sie ist ein unverzichtbares Kriterium, das die gesamte Lehre und Praxis der Kirche unablässig auf Christus hin orientieren will.«
Im Sinne der »Hierarchie der Wahrheiten« sowie der Botschaft von der »Rechtfertigung« der Sünderinnen und Sünder nehmen wir im Fortgang zentrale Themen der Reformation auf und versuchen, sie in heutige Kontexte des Verstehens zu übersetzen. Wir greifen dabei Anliegen der anthropologischen Wendung der Theologie auf, die mit dem Namen von Karl Rahner verbunden ist und im 20. Jahrhundert ihre Aufmerksamkeit auf die Rätsel des Daseins, auf die Lebensfragen der Menschheit, gerichtet hat. (Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre des Lutherischen Weltbundes und der Katholischen Kirche, in: Harding Meyer u. a. (Hg.), Dokumente wachsender Übereinstimmung. Sämtliche Berichte und Konsenstexte interkonfessioneller Gespräche auf Weltebene, Bd. 3, Frankfurt/Paderborn 2003, 419–441, hier 424 (Nr. 17–18).)
Wir wählen im Folgenden einige wenige theologische Themen des 16. Jahrhunderts als Ausgangsort der Überlegungen und fragen dann jeweils nach Möglichkeiten, heute einen gedanklichen Anschluss an die damaligen Anliegen zu finden.
Rechtfertigung der Sünderinnen und Sünder
Martin Luther hat durch das Hören auf ein Wort des Paulus eine existenzielle Wende durchlebt, eine persönliche Wandlung von einem ängstlichen zu einem zuversichtlich auf Gott hoffenden Menschen. Bei seinen Studien zum Römerbrief las er: »im Evangelium wird die Gerechtigkeit Gottes offenbart aus Glauben zum Glauben, wie es in der Schrift heißt: Der aus Glauben Gerechte wird leben« (Röm 1,17). Die Rede von Gottes schenkender Gerechtigkeit steht in der Mitte des reformatorischen Denkens. Gott erwartet keine Vorleistungen bei seinem Handeln allein aus Gnade. Die reformatorische Rede von Gott ist ein beständig erneuerter Appell, sich als Mensch voller Vertrauen auf die Barmherzigkeit Gottes zu besinnen und darin Trost zu finden im Wissen um das eigene Dasein in Sünde. Gott »rechtfertigt« das Leben seiner sündigen Geschöpfe vor sich selbst, indem er sich an sein eigenes, Ursprung und Vollendung verheißendes, in Gnade die Schöpfung erwählendes Wesen erinnert: Gott bleibt den sündigen Menschen vorbehaltlos zugewandt im Leben und im Sterben.
Der Begriff »Rechtfertigung« birgt viele Gefahren für Missverständnisse: Es könnte bei dieser Wortwahl der Eindruck entstehen, als verteidige Gott den sündigen Menschen und nehme dabei nicht ernst, dass in der Folge der Sünden Leid und Unheil eintritt. So ist es nicht gemeint. Die Rechtfertigungslehre nimmt vielmehr in dramatischer Dringlichkeit die Möglichkeit in den Blick, dass Gott die sündigen Geschöpfe gerade angesichts ihrer schändlichen Taten im selbst gewählten Tod belassen könnte. Die Wende hin zur Erlösung geschieht in Gott selbst, in seinem Ringen um Gnade und Erbarmen. Ein Gericht nach den Werken wird es auch aus reformatorischer Sicht geben.
Heute sind wir in der Ökumene gemeinsam auf der Suche nach Bildworten, die lebensnah und erfahrungsbezogen davon sprechen, was mit Erlösung gemeint sein könnte. Die Botschaft von der Rechtfertigung der Sünder und Sünderinnen ist in einem Sprachspiel verortet, das der Welt der Rechtsprechung, der Justiz, nahe ist. So ist auch die Rede von Rechtfertigung in unserer Alltagssprache gefärbt. Dabei geht es um eine Aktivität des Menschen. In vielen alltäglichen Situationen müssen oder wollen wir uns für Entscheidungen und Verhaltensweisen vor anderen rechtfertigen. Aber Gottes Rechtfertigung geschieht anders. Sie setzt gerade nicht voraus, dass wir für uns einstehen. Gott weiß, dass Menschen zwar für einzelne Handlungen einstehen können, aber nicht für ihr Personsein und für ihr Leben als Ganzes. Gott schenkt die Gerechtigkeit, indem er dem Menschen Vertrauen auf seine Güte und Barmherzigkeit schenkt. Wir nehmen heute in der ökumenischen Theo logie die bereichernde Vielfalt der biblischen Metaphern auf, in denen die erlösende Wende, die durch Gottes Handeln allein bewirkt wird, zur Sprache kommt: Gott nimmt den Menschen an, auch wenn er sich selbst als unannehmbar erfährt; Gott heilt den kranken und vom Tod gezeichneten Menschen; Gott eröffnet immer wieder das Gespräch mit allen Geschöpfen, die sich seiner Gemeinschaft verweigern. Immer bleibt Gott der Initiator der Wende zum Guten. Immer ist es erforderlich, dass der Mensch sich vertrauensvoll in dieses Beziehungsgeschehen von Gott hineinnehmen lässt.
Das bedeutet in unserer säkularen Welt auch, dass wir eingestehen dürfen, wie schwer es fällt, Gottes Güte zu vertrauen und sie anzunehmen. Die Botschaft von der Rechtfertigung im Glauben ohne Verdienste fügt sich nicht so ohne weiteres in unser modernes Weltbild. Der Gedanke, dass die Gerechtigkeit ein Geschenk sein könnte, reibt sich mit den Vorstellungen unseres gesunden Menschenverstandes, der uns sagt, dass man nur gerecht sein kann, wenn man im Denken und Handeln Gerechtigkeit übt. Vor allem aber setzt die Botschaft von der Rechtfertigung ein Gottesbild voraus, das sich mit unseren modernen naturwissenschaftlichen Vorstellungen nicht zu vertragen scheint. Viele können sich heute Gott allenfalls als eine kosmische Kraft vorstellen, die die Welt schafft und ordnet. Ein persönliches Gottesbild erscheint vielen hingegen anthropomorph. Doch gerade das Evangelium und die Rechtfertigungsbotschaft geben Anlass zu einer Rückfrage an das, was uns heute plausibel sein mag. Wäre Gott wirklich Gott, wenn er nicht auf menschliche und persönliche Weise mit uns umginge und uns eine menschliche Beziehung zu sich erlaubte? Das genau geschieht in der Verheißung der Gerechtigkeit aus Glauben an Jesus Christus.
Gnade und Freiheit
Die meisten Menschen kennen wohl diese Situation nur zu gut: sie wollen den Ansprüchen genügen, die sie an sich selbst stellen oder die ihnen gestellt werden, aber es gelingt nicht. Selbstzweifel kommen auf, und der Versuch, doch irgendwie zum Erfolg zu gelangen, kann ungeheure Anspannung mit sich bringen. Leistungsdruck macht unfrei. Das gilt in besonderer Weise, wenn es nicht nur um Erfolge in einzelnen Bereichen des Lebens geht, sondern um das Gelingen des Lebens insgesamt. Die Evangeliumsbotschaft ist befreiend, weil sie mit der Zusage der Gnade und Barmherzigkeit Gottes befreit von dem Zwang, das eigene Leben gut und vollkommen machen zu müssen. Dieser Zwang ist nicht nur für uns ungut, sondern hat Auswirkungen auf die Mitmenschen. Denn wer permanent damit beschäftigt ist, aus sich und seinem Leben etwas zu machen und Gott oder auch menschlichen Autoritäten zu gefallen, der dreht sich um sich selbst. Selbstzentriertheit schränkt ein. Sie verbaut die Möglichkeit, auf andere Menschen um ihrer selbst willen einzugehen. In der Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen stellte Luther zwei grundlegende und scheinbar widersprüchliche Thesen auf. Die erste lautet: »Ein Christenmensch ist ein freier Herr und niemandem untertan«. Die zweite lautet demgegenüber: »Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht und jedermann untertan«. Diese beiden Thesen kommen zusammen, wenn der Mensch von Gottes bedingungsloser und rettender Zuwendung und Barmherzigkeit ausgehen darf.
Gesetz und Evangelium
Martin Luther lehnt sich in seiner Beschreibung des Unterschieds zwischen Gesetz und Evangelium an den Apostel Paulus in seinem Brief an die Galater an. Paulus schreibt: »Ehe der Glaube kam, waren wir im Gefängnis des Gesetzes, festgehalten bis zu der Zeit, da der Glaube offenbart werden sollte. So hat das Gesetz uns in der Zucht gehalten bis zum Kommen Christi, damit wir durch den Glauben gerecht gemacht werden. Nachdem aber der Glaube gekommen ist, stehen wir nicht mehr unter dieser Zucht« (Gal 3,23–25). An diesem neutestamentlichen Schriftzeugnis orientiert Luther seine Position, wenn er im Jahr 1532 zum dritten Kapitel des Briefs an die Galater predigt und sagt: »Das Evangelium ist ein reines Geschenk, Gabe und Heil; wir müssen nur den Sack aufhalten und uns geben lassen. Das Gesetz nimmt und fordert etwas von uns. […] Das Gesetz ermahnt dich, dies und das zu tun […] Das Evangelium sagt dir: Christus ist dein Schatz, dein Geschenk, deine Hilfe, dein Trost«.(Vgl. Weimarer Ausgabe WA 36,14–15.)
Der strikten Opposition zwischen Gesetz und Evangelium widersprechen heute viele Schriftkundige in der Theologie. Nicht nur von jüdischer Seite wird an die göttliche Gabe des Gesetzes erinnert. Gott selbst hat die zehn Gebote in Stein meißeln lassen. Die Weisungen zur Gottesliebe (die erste Tafel der Gebote mit der Weisung zur Verehrung des einen einzigen Gottes und der Weisung zur Einhaltung des Sabbatgebotes) und die Weisungen zur Menschenliebe (Achtung der Eltern; Verbot des Mordens und des Ehebruchs; Weisung zur Aufrichtigkeit im Zeugnis; Achtung des fremden Eigentums) gehören zuinnerst zusammen. Das Evangelium von der Barmherzigkeit Gottes wird nicht erst im Neuen Testament verkündigt; es gibt viele Belege auch in den alttestamentlichen Schriften, die Gottes Gnade mit Sünderinnen und Sündern bezeugen.
Es gibt kostbare Worte in den alttestamentlichen Schriften, die Gottes Weisung zum sozialen Handeln konkretisieren. Wer liebt, erfüllt das Gesetz. Das Gesetz ist konkret: den Armen die Nachernte überlassen; Witwen und Waisen schützen; alte Menschen in der Gemeinschaft bewahren; Fremde achten; auf die Bitten der Notleidenden hören. Solchen biblisch begründeten Weisungen zu folgen, ist auch im Sinne von Martin Luther. Das Gesetz ist nicht aufgehoben. Vielmehr hat Luther es in seinen Katechismen konkret ausgelegt und sich dabei gerade nicht auf die Verbote, sondern auf die guten Werke konzentriert, die Gottes Willen entsprechen. Für Luther ist dabei wichtig, dass alle Werke im Vertrauen auf Gott geschehen, das heißt im Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit und Sündenvergebung. Die Zusage des Evangeliums ist nicht etwas ein Aufruf, das Gesetz nicht mehr zu achten. Vielmehr schenkt sie Mut und Kraft zu guten Werken. Wir sollen füreinander tun, was auch immer wir können im Guten. Immer fehlt etwas. Dennoch versagt uns Gott die lebendige Gemeinschaft mit ihm nicht.
Taufe
Martin Luther war ein Lehrer der Theologie, der eine hohe Begabung hatte, in pädagogischer Absicht komplexe theologische Zusammenhänge anschaulich und einprägsam zu vermitteln. Im vierten Hauptstück seines Kleinen Katechismus gibt er Auskunft über sein Verständnis der Taufe. (Vgl. Unser Glaube. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, Gütersloh 42000, 550–552.) Er gestaltet seine Rede im Stil von Frage und Antwort: 1. Was ist die Taufe? Sie ist »nicht allein schlicht Wasser, sondern sie ist das Wasser in Gottes Geist gefasst und mit Gottes Wort verbunden.« 2. Was nützt die Taufe? »Sie wirkt Vergebung der Sünden, erlöst vom Tode und vom Teufel und gibt die ewige Seligkeit allen, die es glauben, wie die Worte und Verheißung Gottes lauten.« (Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre des Lutherischen Weltbundes und der Katholischen Kirche, in: Harding Meyer u. a. (Hg.), Dokumente wachsender Übereinstimmung. Sämtliche Berichte und Konsenstexte interkonfessioneller Gespräche auf Weltebene, Bd. 3, Frankfurt/Paderborn 2003, 419–441, hier 424 (Nr. 17–18).). Wie kann Wasser eine solche Wirkung haben? »Wasser tut’s freilich nicht, sondern das Wort Gottes, das mit und bei dem Wasser ist, und der Glaube, der solchem Worte Gottes im Wasser traut«. Luther spricht von einem »Bad der neuen Geburt im Heiligen Geist«. 4. Was bedeutet die Wassertaufe? Die Antwort von Luther auf diese Frage hat eine große Wirkungsgeschichte in der evangelischen Frömmigkeit entfaltet: »Es bedeutet, dass der alte Adam in uns durch tägliche Reue und Buße soll ersäuft werden und sterben mit allen Sünden und bösen Lüsten; und wiederum täglich soll herauskommen und auferstehen ein neuer Mensch, der in Gerechtigkeit und Reinigkeit vor Gott ewiglich lebe.« Mit Paulus betont Luther somit die den Menschen verwandelnde Wirksamkeit der Taufe, die sich in einer neuen Lebensexistenz tagtäglich zeigen möge (vgl. Röm 6,4).
Im 16. Jahrhundert waren die Theologie und die Praxis der Taufe zwischen den altgläubigen (den späteren römisch-katholischen) und den lutherischen Theologen weithin nicht strittig. Beide Seiten verteidigten sie leider nicht nur mit Worten, vielmehr in einzelnen Regionen auch mit gewaltsamen und blutigen Hinrichtungen von Anhängern der täuferischen Bewegungen, die den persönlichen Glauben der Taufbewerber als Voraussetzung für die Taufe betrachteten und daher die Taufe von Kindern ablehnten. Es gehört zu den schmerzlichen und bitteren Erkenntnissen im Rückblick auf die Reformationszeit, in welch hohem Maße Christinnen und Christen aneinander schuldig geworden sind. In einem Schuldbekenntnis vor den Mennoniten im Rahmen einer gemeinsamen liturgischen Versöhnungsfeier hat der Lutherische Weltbund sich im 21. Jahrhundert zu dieser historischen Schuld bekannt und um Vergebung gebeten. Das sakramentale Band der Taufe ist die kostbarste Verbindung, die zwischen allen Christinnen und Christen bereits besteht. Im Sinne von Martin Luther sind alle Getauften dazu berufen, tagtäglich im Geist Jesu Christi zu leben: versöhnungsbereit auch denen gegenüber, die feindlich begegnen, barmherzig mit allen, tätig nahe den Armen, Kranken und Entrechteten, tröstend die Trauernden und hoffnungsvoll selbst angesichts des Todes. Am Ende wird der Tod nicht mehr sein, keine Trauer, keine Mühsal, kein Elend. Jeder Tag als neuer Adam (und als neue Eva, als Mutter des Lebens) kann ein Vorschein dieser Zeit sein.
Abendmahl
In seinem Kleinen Katechismus aus dem Jahr 1529 antwortet Martin Luther auf die Frage, was das »Sakrament des Altares« ist, mit schlichten, den biblischen Zeugnissen nahen Formulierungen: »Es ist der wahre Leib und Blut unseres Herrn Jesus Christus, unter dem Brot und dem Wein uns Christen zu essen und zu trinken von Christus selbst eingesetzt.« (Vgl. ebd., 553.) Ab 1526 verteidigte Martin Luther dieses Abendmahlsverständnis insbesondere im theologischen Streit mit Huldrych Zwingli und anderen Reformatoren in den süddeutschen Städten sowie in der Schweiz. Dort formierte sich später unter der gedanklichen Leitung von Johannes Calvin das reformierte Verständnis des Abendmahls. Während Luther die reale Gegenwart der ganzen ungeteilten Person Jesu Christi im Abendmahl und damit auch nach seiner menschlichen Natur betonte, wurde in der calvinischen Tradition die Gegenwart verstanden als geistliche Gegenwart. Maßgeblich war die Überzeugung, dass Jesus Christus nach seiner menschlichen Natur nur an einem Ort sein könne und nach der Himmelfahrt zur Rechten des Vaters sitze.
Opposition bezog Luther in seiner Zeit aber auch gegen die altgläubige Lehre: Drei Gründe sah er dafür: Erstens die Annahme, durch die häufige Feier des Messopfers werde die Einmaligkeit und Vollgenügsamkeit des erlösenden Lebensopfers Jesu Christi in Frage gestellt; zweitens die an philosophischen (aristotelischen) Schulmeinungen orientierte Lehre von der Transsubstantiation zur Erläuterung der wahren Präsenz Jesu Christi in den Mahlgaben gemäß der Tradition von Thomas von Aquin; drittens die Unterscheidung zwischen Priestern und Laien bei der Gabe des Weins im Kelch – anders als der Weisung Jesu entsprechend, da er der biblischen Überlieferung nach sagte: »Trinkt alle daraus« (vgl. Mt 26,27). Inzwischen konnten zwischen lutherischen und römisch-katholischen Theologen Gespräche geführt werden, in denen die gemeinsame Lehre vom Abendmahl zur Sprache gebracht werden konnte. Hilfreich ist dabei, dass bereits das Trienter Konzil im 16. Jahrhundert wichtige Anliegen von Martin Luther aufgegriffen hat.
(1) Die Klarstellung, dass das Messopfer kein zusätzliches, gar als das Lebensopfer Jesu Christi ergänzend gedachtes Opfer der Kirche ist, wird heute anerkannt; es handelt sich um eine Feier des Gedächtnisses, in der die einmalige und voll genügsame, nicht zu wiederholende, geschichtlich begründete Lebenshingabe Jesu Christi für die Feiernden wirksam gegenwärtig wird.
(2) Das Zugeständnis, dass alle menschlichen Versuche des Verstehens des Geheimnisses der Eucharistie nicht ermessen können, was Gott in Jesus Christus für uns getan hat, verbindet die Konfessionen; Anleihen bei philosophischen Konzepten sind immer ein Behelf. Heute suchen evangelischen und römischkatholische Theologinnen und Theologen gemeinsam nach neuen Zugängen zum Verständnis der wahren Gegenwart Jesu Christi im eucharistischen Mahl: Das Sein jedes Seienden bestimmt sich in seinem Bezugszusammenhang (relationale Ontologie); der von Jesus gestiftete Zusammenhang zwischen dem gebrochenen Brot sowie dem kreisenden Weinbecher mit Jesu Sterben in leibhaftig verblutender Existenz für uns begründet die Möglichkeit einer zeichenhaften Verkündigung der trotz aller Sünde bleibenden, immerzu zur Versöhnung bereiten Beziehungswilligkeit Gottes; diese Verheißung Gottes wird in der Feier des Abendmahls respektive in der Eucharistie wirksam vergegenwärtigt; dadurch verändern die Mahlgaben ihr Sein für uns.
(3) Auf der Grundlage der biblischen Weisungen hat das Zweite Vatikanische Konzil im Zusammenhang der Reformen der Liturgie auch auf die besondere Bedeutung der Gabe des Weinbechers an alle aufmerksam gemacht. Es gibt keine dogmatischen Lehrdifferenzen in diesem Zusammenhang: Auch aus lutherischer Sicht wird das gesamte Christusgeschehen im eucharistischen Brot ganz gegenwärtig; das Stiftungswort Jesus gebietet es jedoch, mit Brot und Wein das Gedächtnis des Abendmahls zu feiern, wenn nicht besondere Hindernisse vorliegen; aus römisch-katholischer Sicht ist die Gabe von Brot und Wein an alle im Gottesdienst versammelten Glaubenden nicht verboten – dies auch immer zu tun, wäre eine sehr wichtige ökumenische Geste.
Es gibt viele Möglichkeiten, heute vor dem Hintergrund der erreichten ökumenischen Verständigungen ökumenisch sensibel Eucharistie und Abendmahl zu feiern. Viele Verwundungen könnten durch eine Veränderung der Praxis überwunden werden – beispielsweise auch die Anerkenntnis der Einsicht, dass die Gaben von Brot und Wein so lange, wie sie stiftungsgemäß zum Mahl verwendet werden, aus lutherischer Sicht Leib und Blut Jesu Christi sind. Manche lutherischen Gemeinden gehen nach der Abendmahlsliturgie zu kranken und alten Menschen und bringen ihnen die Mahlgaben. Über das Totengedächtnis in der Eucharistie sollten wir ökumenisch intensiver sprechen. In der ökumenischen Theologie sind wir der Überzeugung, dass wir uns in allen Fragen der Lehre von Abendmahl und Eucharistie soweit verständigt haben, dass die verbleibenden Unterschiede nicht mehr kirchentrennend sind.
Auf der Grundlage der erreichten theologischen Verständigungen in der Abendmahlslehre könnten wir miteinander feiern – wäre da nicht noch die Frage, wer diesen Feiern vorstehen darf – etwa auch Frauen? Die Frage nach dem Amtsverständnis hat sich in den ökumenischen Dialogen als ökumenische Gretchenfrage herauskristallisiert. Im 16. Jahrhundert war sie das nicht. Für Luther war selbstverständlich, dass nur ein ordinierter Pfarrer die Abendmahlsfeier leitete. Doch in den reformatorischen Territorien des Heiligen Römischen Reiches fanden sich damals keine Bischöfe, die bereit waren, reformatorische Geistliche zu ordinieren. Um die Verkündigung zu sichern, entschieden sich die Reformatoren dafür, die Ordination durch Pfarrer durchzuführen. Die Gültigkeit dieser Ordinationen wurde von römisch-katholischer Seite bestritten. Bis heute stellt die Frage der gültigen Ordination ein Problem dar. Martin Luther war dagegen wichtiger, wer zum Abendmahl kommen darf. Er dachte weniger an die kirchlichen Ämter, mehr an die angemessene innere Vorbereitung der getauften Sünderinnen und Sünder auf das Geschehen; Buße und Beichte erschienen ihm als eine notwendige Voraussetzung für die Teilhabe an der Feier. Gemeinsam suchen wir in der Ökumene heute nach Wegen, eine Antwort auf die offene Frage nach der Eucharistie- und Abendmahlsgemeinschaft zu finden, auf die so viele engagierte Christinnen und Christen mit heiliger Ungeduld warten.
Ausblick
Karl Rahner hat vier Tage nach dem Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils am 12. Dezember 1965 mit prophetischer Begabung einen Vortrag in München gehalten. Rahner hat damals die ökumenische Bedeutung der Beschlüsse des Konzils für die Ökumene beschrieben und zugleich eine Vorausschau gewagt: »Das Konzil hat sich zweifellos Aufgaben und Themen gestellt, die […] nicht größer sein könnten. Aber gemessen an der Aufgabe, der die Kirche in den nächsten Jahrzehnten entgegensieht, sind doch alle Fragestellungen nur ein Anfang, eine entfernte Vorbereitung und eine erste Zurüstung für diese Aufgabe der andrängenden Zukunft. Denn diese Zukunft fragt die Kirche nicht nach den genauen Einzelheiten der Kirchenverfassung, nach der genaueren und schöneren Gestaltung der Liturgie, auch nicht in erster Linie nach kontroverstheologischen Unterscheidungslehren gegenüber der Lehre der nichtkatholischen Christen, nicht nach einem mehr oder weniger idealen Regieren der römischen Kurie, sondern danach, ob die Kirche die richtende und erfüllende Nähe des unsagbaren Geheimnisses, das wir Gott nennen, so glaubhaft bezeugen könne, dass der Mensch des Zeitalters der Technik, der Welteinheit, der sich selbst zum Gegenstand seiner Tat macht und seine Umwelt nach seinen eigenen Gesetzen erbaut, dieses unsagbare Geheimnis auch als in seinem Leben waltend erfahren kann.« (Karl Rahner, Das Konzil – ein neuer Beginn. Mit einer Hinführung von Karl Kardinal Lehmann herausgegeben von Andreas R. Batlogg und Albert Raffelt, Freiburg/Basel/Wien 2012, 46 f. (Hervorheb. im Orig.).)
Die Frage nach Gott verbindet das theologische Denken von Martin Luther im 16. Jahrhundert mit Karl Rahner im 20. Jahrhundert. Unterschiedlich waren die zeitgeschichtlichen Kontexte: Im 16. Jahrhundert war die radikale Abhängigkeit des sündigen Menschen von der Barmherzigkeit Gottes im Mikrokosmos des eigenen Lebens das vorrangige Empfinden; im 20. Jahrhundert steht das Zutrauen des Menschen in das von ihm selbst im Makrokosmos der Welt auch ohne Gott Machbare im Vordergrund.
Welche Perspektiven gibt es für die Verkündigung Gottes im 21. Jahrhundert? Unübersichtlich sind die Versuche auf eine Antwort auf diese Frage in der theologischen Literatur. Manche Phänomene geben zu denken und führen zurück an das Lebensempfinden im 16. Jahrhundert: Wir nehmen die Ohnmacht der Menschheit wahr, aus eigenen Kräften die bösen Mächte in der Welt wirksam einzugrenzen; neue religiöse Bewegungen finden Zuspruch, in denen die individuelle Persönlichkeit Aufmerksamkeit und Wertschätzung erfährt; empfindsam werden Krankheiten und Leiden therapeutisch begleitet; der Ruf nach synodalen Strukturen in allen Kirchen mit einem höheren Maß an Partizipation bei den Entscheidungsfindungsprozessen ergeht an vielen Orten. Nach Gott im Leben fragen – das ist die Aufgabe jeder Zeit.
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Dorothea Sattler / Frederike Nüssel |
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