archivierte Ausgabe 5/2022 |
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Die Schriftleitung |
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Leseprobe 2 |
Auf dem Weg der Umkehr und der Erneuerung. |
Fünf geistliche Orientierungen aus der Arbeit
des Synodalen Weges |
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Vorbemerkung der Redaktion: Vom 8. bis 10. September 2022 findet in Frankfurt die IV. Vollversammlung des Synodalen Weges statt. Mit den folgenden Impulsen zum Orientierungstext, der als Grundlage für die Weiterarbeit im Frühjahr 2022 verabschiedet wurde, begleiten wir die Arbeit des Synodalen Weges und regen an, sie in den Gottesdiensten und Veranstaltungen der Gemeinden mitzutragen. Die folgenden Texte mögen Quelle und Inspiration dazu sein. Der gesamte Orientierungstext ist abrufbar auf der Homepage des Synodalen Weges (www.synodalerweg.de).
Orientierung finden Wohin geht’s? Mit der Weltgeschichte, mit der katholischen Kirche, mit meinem eigenen Leben? Als Menschen in Bewegung sind wir, bevor es losgeht und wir aufbrechen, mit der Frage konfrontiert: Wohin soll es gehen? Welche Ziele erscheinen sinnvoll, welche Wege sind gangbar, welche Orientierungen scheinen hilfreich? Und worauf ist der innere Kompass geeicht? Angesichts des Schreckens von sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch in der katholischen Kirche Deutschlands haben sich Bischofskonferenz und Zentralkomitee der Katholiken zusammen auf einen Reformprozess geeinigt, dem sie den Namen »Synodaler Weg« gegeben haben. Und sie haben damit die Weg-Metapher hervorgehoben. Prozess, Bewegung, Aufbruch, Suche, Entdeckung: Beim Synodalen Weg geht es um diese Erfahrungen des Unterwegsseins eines »wandernden Gottesvolkes«, wie die Kirche im Anschluss an das Zweite Vatikanische Konzil auch genannt wird. Im Februar 2022 hat die III. Vollversammlung des Synodalen Weges als erstes Dokument einen Orientierungstext (= OT) verabschiedet: ein Vademecum für die Wanderung und eine Ansage, worauf der innere Kompass ausgerichtet sein soll. Eine Landkarte ist weniger spektakulär als die erwanderte Landschaft. Und so kommt auch der Orientierungstext trockener und sperriger daher als ein Gedicht, ein Essay oder ein Roman. Und doch zeigt die Synodalversammlung im mit deutlicher Mehrheit verabschiedeten Orientierungstext ihre Ausrichtung an – und wie sie den Synodalen Weg als geistlichen Prozess sehen und gehen will: im Glauben an einen Gott, der seine Geschichte mit den Menschen hat und in der Geschichte wirkt; in der Ausrichtung auf einen Gott, der Menschen in menschlicher Begegnung nahe kommt; im Hören auf einen Gott, dessen Parteinahme für die Armen Konsequenzen hat; in der Freude an Gottes schöpferischer Vielfalt, die zur Selbstüberschreitung ermutigt; im Unterwegssein mit dem überlieferten und gegenwärtigen Wort Gottes.
I. Der Glaube an Gott, der in der Geschichte wirkt Gott wirkt. Er ruft ins Leben. Er fängt an, mit der Welt, mit seinem Gottesvolk, mit jedem Menschenkind, und er hört nicht auf anzufangen. Wenn Glaubende sich darauf verlassen (möchten), öffnet das eine wohlwollende Sicht auf die eigene Lebensgeschichte. Dann können sie wachsen, lernen, üben, umkehren, neu anfangen. Dann können sie sich überraschen lassen von dem, was sie heute erfahren. Dann können sie Gewissheiten loslassen, die gestern noch wichtig waren. Dann können sie alt werden und jung bleiben. Weil Gott in jedem Atemzug, jedem Lebensalter, jedem Augenblick präsent ist. So an Gott zu glauben und sich auf ihn einzulassen, hat mit Wachheit, Aufmerksamkeit und der Bereitschaft zur Gegenwärtigkeit zu tun: Was sehe, höre, erlebe und erleide ich heute – und wie spricht mich der lebendige Gott darin an? Was fange ich damit an und was will Gott mit mir darin anfangen? Diese Fragen gelten für die Einzelnen wie für die Glaubensgemeinschaft. Davon sind die Delegierten des Synodalen Weges überzeugt: »Der Gottesdienst wandelt sich; die Lehre entwickelt sich; die Caritas entfaltet sich. In ihrer Dynamik ist die Tradition der Prozess, immer neu die gegenwärtige Gestalt der Kirche und des Glaubens zu überprüfen, um sie immer neu als Gottes Gabe zu empfangen und zu gestalten.« (OT 30) Sie knüpfen damit an eine Aussage von Papst Franziskus und seine Würdigung der Geschichtlichkeit an: »Gott übersteigt uns unendlich, er ist immer eine Überraschung, und nicht wir bestimmen, unter welchen geschichtlichen Umständen wir auf ihn treffen, denn Zeit und Ort sowie Art und Weise der Begegnung hängen nicht von uns ab. Wer es ganz klar und deutlich haben will, beabsichtigt, die Transzendenz Gottes zu beherrschen.« (Papst Franziskus, Gaudete et exsultate 41 | OT 61) Sich diesem Beherrschungsmodus zu widersetzen, ist für die Synodalen Ausdruck des Glaubens an die unverfügbare Größe Gottes. Glaubende können sich »darauf einlassen, dass mit jeder Antwort und in jeder Zeit wieder neue Fragen aufkommen, dass die Suche nach der Wahrheit, auch wenn sie schon einmal gefunden wurde, nicht endet, bis die Zeit von Gott vollendet wird.« (OT 62) Welch eine Verheißung!
II. Die »Zeichen der Zeit« und das Vertrauen auf einen Gott der Begegnung In der kirchlich-religiösen Sprache wird die Bereitschaft zu einem wachen Gegenwärtig-Sein mit dem Begriff »Hören auf die Zeichen der Zeit« umschrieben. »Die Zeichen der Zeit stehen für Momente, in denen sich etwas Bedeutsames offenbart und zur Entscheidung zwingt. Sie stehen für ein Zeitfenster, ein Momentum, einen Kairos.« (OT 39) Das griechische Wort kairos meint: den richtigen Augenblick. Neben dem Begriff chronos, der im Griechischen die fortlaufende, messbare Zeit definiert, beschreibt das Wort Kairos das, was jetzt »an der Zeit ist«. Was das ist, was meine Zustimmung oder meinen Widerspruch hervorruft, zeigt sich erst, wenn ich mich auf die Gegenwart einlasse. Wenn ich die Bereitschaft und den Mut zur Begegnung habe. Die Freiheit, über mich hinauszugehen und in der Begegnung zu wachsen. In der Begegnung kommen verschiedene Welten zusammen. Inneres und Äußeres, Erinnertes und Erwartetes, Persönliches und Politisches, Geplantes und Unvorhergesehenes spielen in den Begegnungsgeschichten der Menschen zusammen. So auch in der Kirche. Sie entspricht dem Schöpfungswillen Gottes, »wenn sie neben Schrift und Tradition auch die Zeichen der Zeit sorgfältig nach den Spuren von Gottes heilsam-befreiender Gegenwart befragt und auslegt« (OT 37). Was die »Zeichen der Zeit« bedeuten können, zeigt sich im Horizont der Erfahrungen, die in Schrift und Tradition bezeugt werden: »Die Zeichen der Zeit müssen im Geist, im Leben und Geschick Jesu Christi gedeutet werden. Der Auferstandene selbst sendet seinen Jüngerinnen und Jüngern den Beistand seines Geistes (Joh 16,7f.).« (OT 41) Die Synodalversammlung ist überzeugt: Wo Glaubende sich auf die Begegnung mit den Zeichen der Zeit einlassen, werden sie den Beistand des Heiligen Geistes erfahren. Und sie werden entdecken, dass »prophetische Stimmen nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb der Kirche« zu finden sind: »Die Philosophie und die Weisheit der Völker, die Wissenschaft und die Künste, das Leben der Menschen und die soziale Arbeit der Kirche waren und sind inspirierende Faktoren für die Weiterentwicklung und immer wieder neue Entfaltung der Tradition.« (OT 30) So sieht die Synodalversammlung eine auf die Zeichen der Zeit achtende Kirche hineingestellt in einen dauernden Prozess des Wachsens und Kirche-Werdens: »Das Geheimnis Gottes ist eine bleibende Herausforderung für die Theologie und für die Kirche als Ganze. Denn sie führt zu einer richtig verstandenen selbstkritischen Haltung der Demut, in der die eigenen Deutungen und Überzeugungen immer wieder relativiert werden, d. h. zurückbezogen auf das Geheimnis der grenzenlosen Liebe Gottes.« (OT 62) In der Ausrichtung auf dieses Geheimnis wird es den Glaubenden möglich, sich dem Störenden und Verstörenden, dem Zwiespältigen und Abgründigen zuzuwenden – und Wege der Umkehr und des Neubeginns zu wagen.
III. Fragend, fehlbar und leidsensibel: Kennzeichen der Umkehr »Ein Haus voll Glorie schauet / Weit über alle Land’, / Aus ew’gem Stein erbauet / Von Gottes Meisterhand. / Gott! wir loben dich; / Gott! wir preisen dich; / O laß im Hause dein / Uns all geborgen sein!« Dieses 1875 von Joseph Mohr geschriebene Lied gehörte lange zum Standardrepertoire vieler Gemeinden, bei Kirchweihfesten und auf Prozessionen gern gesungen. Das Lied steht exemplarisch für eine Zeit und ein Kirchenbild. Inmitten einer Welt, die geprägt ist von rasanter Industrialisierung und dem Kampf unterschiedlicher Geltungsansprüche und Lebenshaltungen inszeniert sich die römische Kirche als Fels in der Brandung, als ideale Gegenwelt: Hier ist der Ort der Wahrheit, hier ist der Ort der Heiligkeit. Exemplarisch spiegelt sich das auch in einem Text aus den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts wider. Mitten in der Weimarer Republik mit ihrer Unruhe und ihrer Diversität schreibt ein katholischer Theologe folgendes: »Noch steht der Fels Petri unerschüttert am Tiberstrom. Gegenüber aller Zersplitterung der Nationen und Völker, gegenüber aller Atomisierung der menschlichen Gesellschaft ist er der Richtpunkt geblieben, an dem sich alles Gewoge und Geschiebe der Entwicklung zur Einheit zurückfinden kann. Und noch immer gibt es in unserer abendländischen Mitte eine Autorität, älter denn alle Staaten, fester gefügt als die Throne der Kaiser, machtvoller als jede Diktatur, heiliger als das Völkerrecht.«1 Heiliger als das Völkerrecht: ein heiliger Vater. Eine heilige Priesterschaft. Ein System, das unantastbar ist, mit Unfehlbarkeitsansprüchen in bestimmten Aussagen, eine »sakrosankte« Kirche. Diese Idealisierung hatte zur Folge, dass nichts diese Stilisierung stören durfte. »Da sagt man nichts gegen« – war lange Zeit die entsprechende Haltung: Alles, was an Dreck und Schmutz da ist, darf nicht vorkommen. Das darf nicht öffentlich werden. Über bestimmte Dinge – besonders über solche, die mit Sexualität zu tun haben – darf nicht gesprochen werden, sie sind tabu. Die vermeintliche Heiligkeit des Amtes darf nicht durch einen ehrlichen Umgang geschmälert werden. Alles was menschlich, fehlbar, suchend, fragend, zweifelnd ist, störte das Bild vom unerschütterlichen Felsen Petri und der Heiligkeit der Kirche. Dieses Kirchenbild ist zerbrochen. Mit den Dokumenten über sexualisierte Gewalt und Machtmissbrauch wurde das systemische Ausmaß einer kirchlichen Unheils-Geschichte deutlich: »Der Aufschrei der Opfer drängt die Kirche in die heilsame Krise einer Läuterung. Er drängt sie als Ganze zur Umkehr.« (OT 43) Durch den Mut der Betroffenen, von ihren Demütigungen und Verletzungen zu sprechen, wurde sichtbar, wie falsch, hohl und verderblich das Bild der Kirche als einer perfekten Gesellschaft war. »Wenn die Kirche ihre eigene Bußtheologie ernst nimmt, sind eine radikale Selbstkritik, ehrliche Reue, offenes Bekenntnis der Schuld und echte Umkehr in der Haltung, im Handeln und, wo nötig, auch in der Veränderung von Strukturen unabdingbar.« (OT 66) Mit dieser Einsicht stehen kirchliche Selbstverständlichkeiten fundamental in Frage und werden dem entsprechend in den Synodalforen befragt: Was bedeuten Worte wie »Heil« und »Heiligkeit« inmitten der Gebrochenheit menschlicher Existenz? Wie lassen sich das »Amt« und die »sakramentale Struktur der Kirche« heute verstehen? Diese Fragen zu stellen und nach tragfähigen Antworten zu suchen, ist für die Synodalen nur im Angesicht der Betroffenen und Überlebenden des Missbrauchs möglich: »Deren Erfahrungen, deren Empörung und Klagen müssen einen Widerhall in der Lehre und in der Praxis der Kirche finden.« (OT 68) Programmatisch beginnt daher der Orientierungstext des Synodalen Weges: »Gott sieht die Not der Menschen und hört, um ihr abzuhelfen – das ist die Frohe Botschaft. Dieser zu folgen, beginnt auch heute mit dem Sehen auf die Verletzten und Marginalisierten, mit dem Hören auf die zum Schweigen Gebrachten und Verurteilten, auf die verstummten und dennoch aufbegehrenden Mitglieder des Volkes Gottes.« (OT 1) Der Orientierungstext ist getragen von der Überzeugung, dass die Kirche dann in der Spur des Evangeliums geht, wenn sie als hörende, suchende und fragende Glaubensgemeinschaft sensibel für das Leiden ist, aufmerksam mit den Gefahren menschlichen Machtmissbrauches umgeht und demütig in der Nachfolge dessen geht, der den Armen, Blinden, Zerschlagenen, Gefangenen Leben verheißt.
IV. Die Gabe und Aufgabe von »Einheit in der Vielfalt« Das griechische Wort synodos besteht aus den Worthälften »syn, zusammen« und »odos, Weg«. Wer synodal losgeht, also sich zusammen mit anderen auf den Weg macht, wird herausfinden müssen: Wie gehen die Wandernden mit den verschiedenen Perspektiven, Geschwindigkeiten und Bedürfnissen um? Wie hören sie aufeinander? Wie gehören sie zueinander? Wie kommen sie weiter, wenn einige nicht mehr mitkommen, andere resigniert auf der Strecke zu bleiben drohen oder gegensätzliche Zielvorstellungen haben? Idealerweise geht es so: »Im Dialog sind die Beteiligten gemeinsam auf der Suche nach der Wahrheit, voller Respekt füreinander und offen für die Einsichten der Teilnehmenden.« (OT 2) Ist das zu schön, um wahr zu sein? Verschleiert die Beschreibung der Kirche als einer solchen »Dialoggemeinschaft« (OT 49) nicht die Machtverhältnisse und Abhängigkeitsstrukturen, bei denen einige an den Hebeln der (Deutungs- und Entscheidungs-)Macht sitzen und andere Stimmen überhört werden oder unberücksichtigt bleiben? Was braucht es, damit in einer synodalen Kirche »Einheit in der Vielfalt« zu finden ist? Diese Fragen haben beim Verfassen des Orientierungstextes dazu beigetragen, ausführlich über die Voraussetzungen und Konturen eines wirklichen Dialoges nachzudenken und durchzubuchstabieren, wie Kirche vielfältig und eindeutig, erkennbar und plural, dialogbereit und entschieden sein kann. Die Begriffe »Vielfalt« und »Einheit« werden dabei in einem spannungsvollen Miteinander gesehen. Die Einheit der Kirche besteht in der »Eindeutigkeit ihrer Sendung und deren vielstimmigen Ausdrucksformen« (OT 46). Wie »Universalität und Regionalität« (OT 53) sich bedingen, muss und kann stets neu entdeckt werden: »Einheit im katholischen Verständnis ist kein statischer Begriff. Sie geschieht konkret zwischen uns und dem dreieinen Gott, in der Vielfalt der Menschen, der Ortskirchen und Kulturen. Einheit ist als Gabe des Hl. Geistes Wesenseigenschaft der Kirche und zugleich Aufgabe für alle Gläubigen.« (OT 54) Wer von der Einheit als »Gabe des Heiligen Geistes« spricht, weiß darum, dass sie nicht einfach auf Knopfdruck oder per Mehrheitsentscheidung herstellbar ist. Sie kann ersehnt, erhofft, angestrebt werden. Es ist Gnade, Glück und Geschenk, wenn Gegensätze zusammenfinden und Differenzen als bereichernd erfahren werden können. Vielleicht wird daher von der »Einheit in der Vielfalt« künftig weniger in der Form des Bewahrens als des Suchens und Ersehnens zu sprechen sein. Und des Dankes für Momente, in denen diese Einheit erlebt wird. Wer Einheit als »Aufgabe für alle Gläubigen« versteht, wird danach suchen, welche Wege zu ihr hilfreich erscheinen und was diese »Einheit in Vielfalt« blockiert oder verhindert. Für die Synodalversammlung zählen beim Ringen um Einheit »die besseren Argumente und tieferen Einsichten, keinesfalls die Anzahl lauter Stimmen oder die Durchschlagskraft machtbewusster Setzungen. Von zu schnellen Mehrheitsentscheidungen berichten Schrift und Tradition nie, von den Kraftanstrengungen gemeinsamer Wahrheitssuche dagegen viel.« (OT 47) Immer neu gelte es, »fundamentalistischen Versuchungen entgegenzutreten, wenn Positionen von einzelnen oder Gruppierungen in dialogunfähiger Weise absolut gesetzt und jeder Debatte entzogen werden sollen« (OT 62). Soll Kommunikation gelingen, braucht es klare Regeln, transparente Strukturen, eine dialogbereite Haltung der Beteiligten und eine wache Sensibilität für eine gute Atmosphäre. Selbstverständlich ist eine solche Kommunikation nicht. Selbstkritisch hat das Präsidium des Synodalen Weges zwischen der II. und III. Vollversammlung die synodale Diskussionskultur reflektiert und einen Leitfaden für gelingende Kommunikation formuliert – etwa mit folgender Mahnung: »Meinungsverschiedenheiten und differenzierte Argumentationen sind in der Sache sinnvoll und bereichern meine eigene Perspektive im Sinne der Unterscheidung. Sie berechtigen mich aber nicht zu einer Abwertung, Bedrohung bzw. Nötigung oder Diffamierung einer anderen Person.« Konkret wird zur Schaffung einer Kultur des achtsamen Miteinanders angeregt: »Ich habe mein Gegenüber im Blick. Nehme ich Zeichen für ein Unwohlsein oder Abwehrreaktionen wahr, reagiere ich darauf und ändere mein Verhalten. Ich versuche, einen Raum zu geben, in dem wir mit allen Beteiligten gleichberechtigt interagieren können.« Zu einer gelingenden Interaktion gehört es auch, das eigene Befinden wahrnehmen und äußern zu können: »Komme ich in eine Situation, in der ich mich abgewertet, bedroht bzw. genötigt oder diffamiert fühle, mache ich das deutlich und weise mein Gegenüber auf diese Grenze hin.« Zusammenfassend heißt es: »Wir geben einander die nötige Zeit, indem wir uns ausreden lassen und Nachfragen gestatten. Wir möchten eine zugewandte Dialog-, aber auch eine interessierte Streit- und Konfliktkultur pflegen. Wir wollen entsprechend klar im Ausdruck und in unserer kommunikativen Absicht sein. Wir schaffen miteinander faire Bedingungen, um unsere Interaktion gelingen zu lassen.«2 Wie sehr das eine ständig neue Herausforderung ist, wird beim Synodalen Weg erlebbar. Ob eine solche Kommunikation gelingt, steht immer neu in Frage. Die »Einheit in der Vielfalt« bleibt Gabe des Heiligen Geistes und Aufgabe aller Gläubigen. Beim Synodalen Weg und in allen anderen Gruppierungen der Kirche: vielfältig und eindeutig, erkennbar und plural, dialogbereit und entschieden. Und wohl meistens menschlich-allzumenschlich.
V. Unterwegs mit dem überlieferten und gegenwärtigen Wort Gottes Zu lernen ist diese Haltung von der Heiligen Schrift mit ihrer Vielfalt und bereichernden Gegensätzlichkeit: »Der biblische Kanon versammelt eine Fülle von Stimmen, die in verschiedenen Sprachen, mit unterschiedlichen Tönen und in weitreichenden Zukunftsvisionen der Suche nach Gott Ausdruck verleihen, der Freude an Gott, dem Fragen nach Gott, aber auch dem Zweifel an Gott, dem Hadern mit Gott und immer wieder dem Staunen über Gott.« (OT 21) Die unterschiedlichen Stimmen und Stimmungen der in der Bibel bezeugten Gottessuche sind Inspiration für die Gegenwart. Für ein Osterbrevier haben 50 Synodale persönliche Statements als Resonanzen zum Orientierungstext verfasst. Der Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer vergleicht in seinem Beitrag die Vielfalt der Bibel mit einem Blick in sein Bücherregal. In beiden finde sich eine große Vielfalt, beobachtet Wilmer und fährt fort: »Doch im Unterschied zu meinem persönlichen Bücherregal habe nicht ich die biblische Büchersammlung bestückt – der Kanon der Bibel ist mir vorgegeben, geschenkt, ab und an auch zugemutet. Nicht alle Stimmen, die mir entgegentönen, sind mir gleichermaßen lieb und angenehm – auf manch Kantiges könnte ich verzichten. Das jedoch ist keine Option: Ein Aussortieren von dem, was mir persönlich nicht so passt oder gefällt, kommt nicht in Frage. … So attraktiv eine harmonisierende Vereinheitlichung auch scheinen mag, das frühchristliche Ringen um den Kanon hat dieser Versuchung stets widerstanden – und damit vor Verflachung und Einheitsbrei bewahrt. Das Jesuszeugnis der Evangelien ist eben vier-fältig – und nicht ein-fältig. Das finde ich inspirierend – auch für die Katholische Kirche im 21. Jahrhundert.«3 Wenn es beim Synodalen Weg darum geht, die Zeichen der Zeit »im Licht des Evangeliums zu deuten« (GS 4 | OT 38), fordert das zu einem aufmerksamen und interessierten Umgang mit der Bibel heraus. Und zur Bereitschaft, sich vom Wort Gottes wandeln und evangelisieren zu lassen: »Die Heilige Schrift ist ein Kompass, um mit Gottes Hilfe neue Wege zu gehen. Sie ermutigt zur Kreativität und zur Kritik, zur Entdeckung des Alten und zur Erkundung des Neuen. Papst Johannes XXIII. hat erklärt: ›Nicht das Evangelium ändert sich, sondern wir beginnen, es besser zu verstehen.‹ (Apoftegma, 24.5.1963)« (OT 24) Für die Einzelnen ist das folgenreich. »Die Heilige Schrift ist für mich weit mehr als nur ein Lese-Buch geworden«, schreibt die Benediktinerin Sr. Philippa Rath in ihrem Beitrag zum Osterbrevier mit Blick auf die tägliche Schriftlesung, die lectio divina, der Bibel. »Sie ist mein Lebens-Buch, mein Begleiter, ja tatsächlich mein Kompass. Ein Kompass weist die Richtung und den Weg. Von jedem beliebigen Standort aus. Wechselt der Standort, dann wechselt auch der Weg. So ist es auch mit dem Wort der Heiligen Schrift. Es ist immer neu, immer frisch, immer aktuell und lädt mich ein, mein Leben und die Welt mit immer neuen Augen zu sehen, Gott darin immer neu zu entdecken.«4 So wird die Bibel zum Vademecum, das die Lebensgeschichte begleitet, prägt und in einen offenen Prozess herausfordert: »Es gibt keine einfachen Lösungen, wenn wir differenziert nach dem Sinn des Wortes Gottes für die Menschen in unserer Zeit fragen.« (Papst Franziskus, Gaudete et exsultate 41 | OT 61) Das zu tun, ist Aufgabe der Beteiligten am Synodalen Weg – in der katholischen Kirche Deutschlands und weltweit. Es ist Geschenk und Herausforderung, daran glaubend, suchend und mitwandernd beteiligt zu sein.
Anmerkungen 1 Karl Adam, Christus und der Geist des Abendlandes, München 1928, 44. 2 Leitfaden für gute Kommunikation und Konfliktgestaltung bei Veranstaltungen des Synodalen Weges: https://www.synodalerweg.de/fileadmin/Synodalerweg/Dokumente_Reden_Beitraege/ 2022_SVIII_Leitfaden.pdf 3 https://www.synodalerweg.de/fileadmin/Synodalerweg/Osterimpulse_2022/02-Osterbrevier_ 2022.pdf 4 https://www.synodalerweg.de/fileadmin/Synodalerweg/Osterimpulse_2022/02-Osterbrevier_ 2022.pdf
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Siegfried Kleymann |
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